Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (25) Orientierung der Doktorgrad und die Approbation aberkannt, in der Folge kam es in einigen Fällen zu Suiziden. Eine Zahnärztin wurde als psychiatrische Patientin Opfer der Krankenmorde im Rahmen der „Euthanasie“. Noch sind nur einzelne Lebens- geschichten der verfolgten Zahnärzte detailliert erforscht; allerdings konnten von den Projektverantwortlichen seit 2017 bereits einige neue Einzelbiogra- fien 8-12 veröffentlicht werden. Ziel der zm-Reihe „Zahnärzte als Täter und Ver- folgte im ‚ Dritten Reich‘“ ist es aus- drücklich auch, mehr dieser Biografien einer zahnärztlichen Öffentlichkeit be- kannt zu machen und so die diskrimi- nierten, vertriebenen und ermordeten Kollegen ins kollektive Gedächtnis der Zahnärzteschaft einzuschreiben. ZWEIFELSFREI TÄTER: Waffen-SS-Männer, KZ-Zahnärzte, Kriegsverbrecher So wie die vorgenannten Zahnärzte „klassische“ Verfolgtengruppen bildeten, so sind die Kollegen, die sich in der SS engagierten, die als KZ-Zahnärzte ein- gesetzt waren und/oder die nach 1945 als Kriegsverbrecher angeklagt wurden, eindeutig als Täter anzusprechen: Die SS, die „Schutzstaffel“ der NSDAP, war der radikalste Exponent der national- sozialistischen Ideologie und Herr- schaftspraxis. Sie steht wie keine andere NS-Organisation für Staatsterror und Massenmord. Die SS übte auf die Zahnärzteschaft offenkundig eine erhebliche Anziehungskraft aus: 13-14 Ende 1938 waren bereits circa 1.400 Zahnärzte als SS-Mitglieder registriert. Im Oktober 1939 gab es in Deutsch- land 16.299 Zahnärzte; demnach ge- hörten damals bereits 9 Prozent aller deutschen Zahnärzte der SS an. Zum Vergleich: Zu jenem Zeitpunkt lag der Anteil der Ärzte in der SS bei etwa 5 Prozent und derjenige der Lehrer bei lediglich 0,4 Prozent. Abzugrenzen von der allgemeinen SS sind die Vertreter der Waffen-SS: Sie verstanden sich als „Elitetruppe“ und Kämpfer für die NS-Weltanschauung. Die Arbeitsgruppe von Dominik Groß konnte 305 in der Waffen-SS organi- sierte Zahnärzte ermitteln. 14 Viele er- reichten den Rang eines SS-Haupt- sturmführers. Oberster SS-Zahnarzt wurde Hugo Blaschke (1881–1960) – eigentlich ein Dentist, der in den USA den Doktorgrad erlangt hatte, er sollte es 1944 bis zum SS-General bringen. Größere Bekanntheit erlangte auch der Waffen-SS-Zahnarzt Helmut Kunz, der in den Mord an den Goebbels-Kindern verstrickt war. 15 Rund 100 dieser Waffen-SS-Männer fungierten als Zahnärzte in Konzen- trationslagern („KZ-Zahnärzte“). „Lei- tender Zahnarzt“ dieser KZs war bis 1943 SS-Sturmbannführer Paul Reutter, danach SS-Obersturmbannführer Hermann Pook 16 . Die KZ-Zahnärzte behandelten anfangs neben dem SS- Personal auch Häftlinge. Diese Tätig- keit ging jedoch mehr und mehr auf Häftlingszahnärzte und -dentisten über. 1940 begann in den Lagern die syste- matische Vernichtung durch Massen- mord. Nicht nur Ärzte, sondern auch einzelne Zahnärzte beteiligten sich an den todbringenden „Selektionen an der Rampe“ und waren so in den Ver- nichtungsprozess der KZs aktiv invol- viert. Eine besondere Rolle kam den SS-Zahnärzten auch beim „Zahngold- raub“ zu: Jener Begriff steht für das Herausbrechen von Zahngold aus den Kiefern der ermordeten KZ-Häftlinge. Zumeist führten Häftlingszahnärzte diese Handlung auf Befehl und unter Aufsicht der KZ-Zahnärzte aus. Kein toter KZ-Häftling wurde zur Verbren- nung freigegeben, bevor das Zahngold entnommen worden war. Darüber hinaus hatten die SS-Zahnärzte die Einschmelzung des Zahngoldes und dessen Aufbewahrung bis zur Abliefe- rung sicherzustellen. Für einige KZ-Zahnärzte sind zudem sadistische bis mörderische Praktiken dokumentiert – so für Georg Coldewey, der an Häftlingen unter anderem Zahnextraktionen ohne Anästhesie vornahm und bereits Lebenden „Gold- zähne“ entfernte. Oder für Walter Sonntag, der im „Frauen-KZ“ Ravens- brück weibliche Häftlinge miss- handelte. Ähnliches gilt für Willi Jäger, der zu persönlichen Übungszwecken Amputationen an KZ-Häftlingen durch- führte, wobei er die Opfer letztlich mit tödlichen Injektionen ermordete. Oder Werner Rohde, der vier Frauen im KZ Natzweiler-Struthof tödliches Phenol verabreichte. 17 1–4 Schwanke et al., 2016; Kirchhoff/Heidel, 2016; Groß et al., 2018a; Groß/Krischel, 2019 5 Guggenbichler, 1988, 134 u. 138 5–6 Guggenbichler, 1988, 134 u. 138; Stand der Zahnärzte, 1938 7 Stuck, 1939 8–12 Groß, 2017:107(8): 56–58; Halling et al., 2018; Groß, 2018a; Reinecke et al., 2019; Wilms/Groß, 2020 13–14 Schulz, 1989; Westemeier et al., 2018 14 Westemeier et al., 2018, 96f (Quellen- bestand ergänzt um Nachrecherchen) 15 Heit et al., 2019 16 Schmidt et al., 2018 17 Groß, 2018b ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. Reichszahnärzteführer Ernst Stuck vor deutschen Zahnärzten im Reichstagssitzungssaal in der Krolloper Foto: zm-Archiv ZAHNÄRZTE IM DRITTEN REICH | 27
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=