Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (26) Zu den eindeutigen Tätern gehören auch diejenigen Zahnärzte, die von alliierten oder bundesdeutschen Gerichten als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurden. Bislang ging man davon aus, dass Zahnärzte kaum betroffen waren – zu den wenigen Aus- nahmen zählte man Hermann Pook 16 , Willi Frank 18 und Willi Schatz 19 . Tat- sächlich konnte die Arbeitsgruppe von Dominik Groß jedoch im Projektver- lauf nicht weniger als 48 Zahnärzte identifizieren, die von alliierten oder bundesdeutschen Gerichten angeklagt und verurteilt wurden – allein 15 zum Tod. 20 Die härtesten Strafen fällten die französischen Tribunale (sechs Todes- urteile), die mildesten die bundes- deutschen Gerichte. Zentrale Tatvor- würfe waren Mord und Totschlag, Misshandlungen sowie – insbesondere bei den angeklagten KZ-Zahnärzten – die todbringenden Selektionen und der erwähnte Zahngoldraub. Schließlich wird man auch diejenigen Zahnärzte und Kieferchirurgen zu den Tätern zählen müssen, die sich in bestimmten Fällen für die Zwangs- sterilisation von Spaltträgern aus- sprachen – wie etwa die Professoren Reinhold Ritter 21 und Martin Waß- mund 22 – oder die in ihrem Amt für die Entlassung und Entrechtung jüdischer Kollegen eintraten – wie Hermann Euler als Rektor der Univer- sität Breslau. 23-25 TÄTER ODER MITLÄUFER? Die Einordnung von NSDAP-Mitgliedern Doch es waren nicht vorrangig die Vertreter der Waffen-SS und die Kriegs- verbrecher, die das NS-Regime stützten und zu dessen Machterhalt beitrugen – es waren insbesondere diejenigen Deutschen, die dem Nationalsozialis- mus und der politischen Gleichschal- tung freudig oder zumindest ergeben gegenübertraten und/oder sich in der Folge der Nationalsozialistischen Partei (NSDAP) anschlossen und sich damit dem System andienten. Ebendiese Hal- tung lässt sich für weite Teile der deutschen Zahnärzteschaft nachweisen: Das Gros der Berufsvertreter begrüßte die neuen Machthaber und die um- gehende „Gleichschaltung“ der Zahn- ärzteschaft, so dass es sich eigentlich um eine „Selbstgleichschaltung“ han- delte. Der Nationalsozialist Ernst Stuck (Abb. 3) wurde ohne merklichen Wider- stand als „Reichszahnärzteführer“ an- erkannt, der Frankfurter Professor Otto Loos zum zahnärztlichen „Reichs- dozentenführer“ und Hermann Euler zum Präsidenten der Deutschen Gesell- schaft für Zahn-, Mund- und Kiefer- heilkunde (DGZMK) ernannt. Die führenden zahnärztlichen Hochschul- lehrer schlossen sich zudem zu einer „Einheitsfront“ zusammen, die Stuck als obersten Führer bestätigte. Auch die Affinität der Zahnärzte zur NSDAP war außergewöhnlich hoch. Bislang ging man davon aus, dass die Ärzteschaft im „Dritten Reich“ unter allen Berufsgruppen den mit Abstand höchsten Organisationsgrad in der NSDAP aufwies. Kater bezifferte ihren Anteil auf der Grundlage eigener Stich- proben auf 45 Prozent – während zum Beispiel bei Juristen und Lehrern eine Quote von 25 Prozent angenommen wird. 26 Auch für die Gruppe der Hochschullehrer gibt es Schätzwerte: Buddrus/Fritzlar vermuteten 2007, dass sich „im Reichsmaßstab etwa 40 Pro- zent der Universitätsprofessoren der NSDAP angeschlossen hatten“ 27 , und Grüttner schätzte ihren Anteil gar auf bis zu zwei Drittel. 28 Tatsächlich konnte Groß im Rahmen des erwähnten Pro- jekts die Parteizugehörigkeit sämtlicher 360 vor 1922 geborenen Hochschul- lehrer der Zahnheilkunde und Kiefer- chirurgie überprüfen: Dabei wurde für 217 Personen beziehungsweise gut 60 Prozent eine NSDAP-Mitgliedschaft nachgewiesen – ein ungewöhnlich hoher Anteil. 29 Doch wie lässt sich die hohe Affinität der Zahnärzteschaft zur NSDAP erklä- ren? Einen wichtigen Erklärungsansatz bietet die Konkurrenz zu den Dentis- ten: Beide Berufsgruppen kämpften um Anerkennung, beide erstrebten die Rückendeckung der neuen Machthaber und dienten sich dementsprechend dem NS-Regime an. Zudem glaubten die Zahnärzte in den Nationalsozialis- ten Mitstreiter im Kampf gegen die un- geliebten Kassenkliniken zu finden. Fakt ist auch, dass es innerhalb der Zahnärzteschaft bereits lange vor 1933 antisemitische Strömungen gab: So veröffentlichte die Zeitschrift „Im Deutschen Reich“ bereits 1909 eine Liste der „Zahnärzte, die jüdische Assis- tenten boykottieren“ 30 . Und schließ- lich dachte das NS-Regime den Zahn- behandlern eine zentrale Rolle bei der „Gesundheitserziehung“ des „deutschen Volkskörpers“ und der Zahngesundheit der deutschen Soldaten zu – darin sah man nicht nur eine Aufwertung der eigenen Tätigkeit, sondern auch indi- viduelle Karrierechancen. Doch wie bewertet man nun dieses parteipolitische Bekenntnis zum Natio- nalsozialismus? Sind die Parteigänger den Tätern zuzurechnen oder führt eine solche Einordnung zu weit? Die Antwort hängt vom Auge des Betrach- ters ab: Letztlich war es genau diese politische Linientreue, dieses Sich-An- dienen, das dem NS-Regime mit zum DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat TÄTER UND VERFOLGTE Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. Den Start in diesem Heft machen Hermann Pook und Waldemar Spier, in der zm 3/2020 folgen Otto Loos und Hans Sachs, in der zm 4/2020 Heinrich Fabian und Therese Kölbig-Schwarz. 18 Huber, 2009; 19 Schwanke/Gross, 2020; 20 Rinnen et al., 2020; 21 Groß et al., 2018b; 22 Thieme, 2018; 23–25 Staehle/Eckart, 2005; Groß, 2018c; Groß et al., 2016; 26 Kater, 2000, 104f.; 27 Buddrus/Fritzlar, 2007, 23; 28 Grüttner, 2010, 150; 29 Groß, 2020; 30 Zahnärzte, 1909; 28 | ZAHNÄRZTE IM DRITTEN REICH
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