Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (32) Nach dem Suizid, der Flucht und der Verhaftung seiner drei Vorgänger wurde Spier 1943 durch die Gestapo zum Vorsteher der verbliebenen jüdischen Gemeinde in Düsseldorf bestimmt 11 und damit zugleich Ver- trauensmann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. In der For- schung wurde bereits darauf hinge- wiesen, dass ein solches Amt einige Gemeindevorsteher das Leben kostete 12 : Unter dem Vorwand der Mitwisser- schaft bei der Flucht seines Vorgängers wurde Spier 1944 zusammen mit seiner Frau erneut verhaftet und verblieb bis zu seiner Deportation ins Vernichtungs- lager Auschwitz am 11. September 1944 im Gerichtsgefängnis in Düssel- dorf-Derendorf. Spier erlebte noch die Befreiung durch die Rote Armee, verstarb aber am 2. März 1945 an den Folgen der Haft (Hungertyphus). Gertrude Spier wurde 1944 nach drei Wochen aus der Haft entlassen und lebte bis zu ihrem Tod 1978 in Düsseldorf. Nach dem Ende des Welt- kriegs trat sie stellvertretend für ihren verstorbenen Mann in mehreren „Wie- dergutmachungsverfahren“ auf, sowie als Zeugin im Strafprozess gegen zwei Gestapo-Beamte, die unter anderem für die Verhaftung und Deportation jüdischer und jüdisch-stämmiger Düs- seldorfer verantwortlich waren. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherr- schaft in Deutschland, 1933–1945“ wird Waldemar Spier mit knappen Lebensdaten gedacht: „Spier, Waldemar, geboren am 16. Oktober 1889 in Düsseldorf/-/Rheinprovinz wohn- haft in Düsseldorf. Inhaftierung: 10. No- vember 1938 – 16. November 1938, Düsseldorf, Polizeigefängnis; 17. November 1938 – 07. Dezember 1938, Dachau, Konzentrationslager; 02. März 1944 – 11. September 1944: Düsseldorf-Deren- dorf, Gerichtsgefängnis. Deportation: ab Düsseldorf 11. September 1944, Auschwitz, Vernichtungslager. Todesdatum: 02. März 1945; Todesort: Auschwitz, Vernichtungslager.“ 13 SEIT 1987 IST SPIER TEIL DES KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES Eine wissenschaftliche und erinnerungs- politische Auseinandersetzung mit jüdischem Leben und der Judenverfol- gung begann in Düsseldorf verstärkt erst mit der Einrichtung einer Mahn- und Gedenkstätte als Lern- und Erinner- ort im Jahr 1987, die auf die Initiative einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Gruppierungen zurückgeht. 14 In einem Sammelband, der an das „November- pogrom 1938 in Düsseldorf“ erinnert, gehört ein kurzes Lebensbild von Spier zu einem Sample von 112 biografischen Skizzen von Düsseldorfer Juden, die am 10. November 1938 in Haft genommen worden waren. Dokumentiert wurde auch das Ausmaß der Zerstörungen in zahlreichen Privatwohnungen, wie in derjenigen von Familie Spier, die kurze Zeit später aufgegeben werden musste: „Kölner Straße 248: Dr. Waldemar und Trude Spier, geborene Armenat: Hier befand sich die Zahnarzt-Praxis und ein Zimmer, in dem Johanna Spier 15 , geborene Kupfer, bis zu ihrem Tod im Oktober 1938 gewohnt hatte. Aus diesem Zimmer warf man die ganze Einrichtung bis auf das Unterteil eines schweren ‚Büfetts’ aus dem Fenster. Alle anderen Räume wurden fast restlos zerstört. Nur die Operationsstühle blieben unbeschädigt.“ 16 Die vor allem für die Jahre vor 1933 nur spärlich überlieferte Biografie Spiers bot Raum zur Mythenbildung, die den Zusammenhang zwischen kulturellem Gedächtnis und Geschichtspolitik ver- deutlicht. Als im Jahr 2013 eine Fan- Initiative des Fußballvereins Fortuna Düsseldorf mit dem Namen „Kopfball – Fortuna Antifascists“ zu einem Fuß- ball-Turnier für Freizeitmannschaften um den „Dr. Waldemar Spier Pokal“ einlud, hatte der Zahnarzt Waldemar Spier bereits eine zentrale Rolle in die- ser vereinsbezogenen Gedenkkultur eingenommen. Unter dem Titel „Der Fortune, der kein Meister sein durfte“ präsentiert eine Broschüre ein „dunkles Kapitel der Fortuna-Geschichte“ und Spier als „jüdischen Leiter der Fußball- abteilung“, der vor dem Endspiel zur Deutschen Meisterschaft im Jahr 1933 aus politischen Gründen „zum Rücktritt gezwungen“ worden sei. 17 Eine Einschätzung, die weit über die gesicherten Informationen zu Spiers Wirken bei der Fortuna hinausging, und im Kontext der Kritik am generellen Umgang des Vereins mit der eigenen Vergangenheit stand. Seit Juli 2017 er- innert ein von Fortuna Düsseldorf und der Fan-Initiative gemeinsam angeregter Stolperstein (Abbildung 2) vor seinem ehemaligen Wohnhaus in der Kölner Straße an Spier. FAZIT Die Biografie von Waldemar Spier ist ein eindringliches Beispiel für die Ver- folgung der breiten Masse von bisher weitgehend unbekannten, in vielen Städten des Deutschen Reichs zu Be- ginn der 1930er-Jahre niedergelassenen jüdischen Zahnärzten. Zugleich werden unterschiedliche spezifische Aspekte der Verfolgung (als Zahnarzt, als Sport- funktionär und als Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf) deutlich, die „gewöhnlich nicht miteinander ver- knüpft werden“ 18 und denen häufig nur in unterschiedlichen Kontexten gedacht wird. ! Abb. 2: Stolperstein für Dr. Waldemar Spier, Kölner Straße 248, gestaltet von Gunter Demnig 11 Strathmann (2003), S. 32. Vgl. auch Cattaruzza (2005), Anm. 39; 12 Meyer (2013), S. 338; 13 http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/( 21.11.2019); 14 Vgl. Fleermann/Sparing/Wolters (2010); 15 Bei Johanna Spier handelt es sich um die Mutter von Waldemar Spier, die nach dem Tod ihres Mannes Siegfried Spier aus Würzburg zurück nach Düsseldorf gezogen war; 16 Genger (2008), S. 252; 17 Der Fortune, der kein Meister sein durfte (2013), S. 3; 18 Friedländer (2007), S. 12. DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: Jonathan Groß, Wikimedia commons 34 | ZAHNÄRZTE IM DRITTEN REICH
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