Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (34) MARKANTES KINN, HERVORSTEHENDE UNTERLIPPE, HERABHÄNGENDE NASE Habsburger Kiefer beruht auf Inzucht Auf Basis 66 gemalter Historienporträts von Adligen haben Forscher zusammen mit internationalen MKG-Chirurgen die Gesichts- deformitäten der Habsburger Dynastie analysiert: Schuld am Defekt war Inzucht, kein dominantes Gen. D as Haus Habsburg war ab dem späten Mittelalter fast 500 Jahre lang eine der mächtigsten Herrscherdynastien Europas. Markan- tes Merkmal vieler Habsburger war ein auffallend vorstehender Unterkiefer kombiniert mit einem unterentwickel- ten Oberkiefer und einer herabhängen- den Nase. Schon früh vermutete man, dass die Heirat unter Verwandten ein Grund dafür sein könnte. Allerdings blieb offen, warum sich diese Gesichts- züge so lange und ausgeprägt in dieser Familie halten konnten. Und damit die Frage, ob die Habsburger Lippe auf rezessive oder dominante Gene zurückgeht. Internationale ForscherInnen haben nun die Gesichtsdeformitäten der be- rühmten Königsfamilie anhand histo- rischer Porträts und der Zuordnung der Verwandtschaftsgrade analysiert. Das Team unter Vorsitz der spanischen Universität Santiago de Compostela (USC) fragte sich, ob eine direkte Beziehung zwischen dem deformierten Gesicht und der Verwandtschafts- beziehung bestehen könnte – also ob Inzucht im Spiel ist. Die Wissen- schaftlerInnen baten zehn MKG-Chi- rurgInnen, insgesamt 66 Porträts von 15 Habsburgern zu analysieren. Die ZahnmedizinerInnen suchten nach insgesamt 18 Merkmalen, die die Fehl- bildungen von Ober- und Unterkiefer kennzeichnen. SO WURDEN DIE PORTRÄTS AUSGEWÄHLT Die Auswahl der Bilder erfolgte nach zwei grundlegenden Kriterien: 1. Die Verfügbarkeit hochwertiger Bilder aus bedeutenden Kunst- museen – fast 70 Prozent sind Fotografien von Gemälden, die derzeit im Prado in Madrid oder im Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrt werden –, was den Zugang zu zuverlässigen Infor- mationen über jedes der Gemälde und deren Zuordnung zu einem bestimmten Maler ermöglicht. 2. In den meisten Fällen wurde historisch bestätigt, dass der Maler die dargestellte Person persönlich gesehen hat. Anhand dieser Bilder wurde ermittelt, wie stark ausgeprägt die genannten Fehlbildungen bei den einzelnen Habsburgern waren. INZUCHT ODER NUR EIN DOMINANTES GEN? Schon lange ist sich die Forschung relativ sicher, dass die „Habsburger Lippe“ auf eine erbliche Veranlagung zurückgeht – ein oder mehrere Gen- varianten verliehen den Habsburgern demnach die für sie typische Kombi- nation aus schwach ausgeprägtem Oberkiefer und vorstehendem Unter- kiefer. Strittig war aber, ob es sich nur um ein dominant vererbtes Familienmerkmal handelte, oder ob die Inzucht durch die vielen Verwandtenehen die Weitergabe dieser Gesichtsmerkmale förderte. Die Inzucht wäre dann der aus- schlaggebende Faktor, wenn die „Habsburger Lippe“ auf rezessive Gene zurückgeht, weil sich das Merkmal nur dann entwickelt, wenn ein Kind von beiden Elternteilen die auslösende Genvariante erbt. Anders wenn das auslösende Gen dominant ist – dann reicht es, wenn der Nachwuchs diese Genvariante nur von einem Elternteil erbt. In diesem Fall kann ein Merkmal in Familien gehäuft auftreten, ohne dass es auf Inzucht zurückzuführen ist. DER HABSBURGER KIEFER / DIE HABSBURGER LIPPE Als Habsburger Lippe bezeichnet man die stark ausgeprägte Unterlippe der Habsburger. Sie resultiert aus einer erblichen Überentwicklung des Unterkiefers (echte Progenie) und einer Zahnfehlstellung der Klasse III und bildet einen Teil des charakteristischen Habsburger Gesichts. Der Habs- burger Kiefer trat sehr häufig bei den spanischen und österreichischen Mo- narchen der Habsburger Dynastie und ihren Ehefrauen auf. Quelle: Wikipedia Beide Fotos: picture alliance_akg Extrem ausgeprägt war die Progenie beim letzten spanischen Habsburgerherrscher Karl II. (1661–1700), dessen acht Urgroßeltern sechs gebürtige Habsburger waren und die siebte eine Wittelsbacherin, deren Mutter eine Habsburgerin war. Das Merkmal, das bereits bei seinem Vater und Großvater prominent zu erkennen war, wurde so stark, dass er als entstellt galt und Probleme hatte, überhaupt zu sprechen und zu kauen. 36 | GESELLSCHAFT

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