Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (35) Trotz des unterschiedlichen künst- lerisch-bildnerischen Stils boten alle Porträts eine realistische Darstellung des menschlichen Gesichts. Für ihre Untersuchung führten die Chirurgen ein System zur Bewertung des Grads der Luxation des Unterkiefers für jedes Mitglieds der Habsburgerfamilie ein. Die Chirurgen diagnostizierten elf cha- rakteristische Merkmale des Unter- kiefergelenks sowie sieben Hinweise auf einen Oberkieferdefekt – besonders auffällig waren dabei die extreme Unterlippe und die herabhängende Nasenspitze. Die Unterkiefer-Fehlbil- dung war am stärksten bei Philip IV. ausgeprägt, zwischen 1621 und 1640 Herrscher über Spanien und Portugal. Der letzte spanische Habsburger-König Karl II. – er regierte von 1665 bis 1700 – besaß eine besonders extreme Ober- kiefer-Fehlbildung. Den höchsten Grad an Luxation wiesen Maximilian I., Kö- nig ab 1493, seine Tochter Margarete von Österreich, sein Neffe Carlos I. von Spanien und Carlos, Urenkel Philips IV., auf. Zusätzlich analysierten die Wissen- schaftlerInnen den Stammbaum der Habsburger – 6.000 Mitglieder und 20 Generationen. Sie bestimmten die Ver- wandtschaftsbeziehungen, um das Ausmaß der Inzucht in der Familie zu ermitteln, und verglichen das Ergebnis mit der Porträtanalyse. JA, ES WAR INZUCHT! Im Ergebnis können die ForscherInnen bestätigen, dass der „Habsburger Kiefer“ die Folge von Inzucht ist. Sie konnten mit ihrer Untersuchungsmethoden zum ersten Mal den eindeutigen Zu- sammenhang herstellen. „Die Habs- burger-Dynastie war eine der einfluss- reichsten in Europa, aber sie war bekannt für ihre Inzucht, die schließ- lich zu ihrem Untergang führte. Erst- mals kann bestätigt werden, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Endogamie und dem Auftreten des Habsburger Kiefers besteht“, bekräftigt Studienleiter Román Vilas von der USC. Sein Team stellte fest, dass insbe- sondere jene Familienmitglieder ausge- prägte Fehlbildungen besaßen, deren Vorfahren besonders eng verwandt waren. Das untermauert die These, dass die typischen Gesichtszüge der Habsburger tatsächlich auf Inzucht zurückgehen. Besonders der hervor- stehende Unterkiefer verrät demnach enge Verwandtschaftsbeziehungen, auch bei der Habsburger Nase und Unterlippe gibt es einen Zusammen- hang, allerdings ist der nicht so auffällig. DAS GEN IST REZESSIV Die genetischen Grundlagen der Fehl- bildungen lassen sich bisher nicht klar ermitteln. Die WissenschaftlerInnen sind sich jedoch sicher, dass die Unter- kiefer-Fehlbildungen rezessiv vererbt werden. Das bedeutet, dass das Merk- mal bei einem Kind nur auftritt, wenn es die genetische Anlage von beiden Elternteilen geerbt hat. Die Wahr- scheinlichkeit dafür steigt, wenn zwei nähere Verwandte, die oftmals beide das rezessive Merkmal tragen, ein gemeinsames Kind bekommen. ck Quelle: Román Vilas, Francisco C. Ceballos, Laila Al-Soufi et al.: Is the „Habsburg jaw“ related to inbreeding?, in Annals of Human Biology, Published online 2 December 2019. KLINISCHE ANALYSE / METHODE Die Diagnose des unterentwickelten Oberkiefers (maxillary deficiency, MD) und der mandibulären Pro- gnathie (mandibular prognathism, MP) aus Porträts wurde anhand von elf dysmorphen Merkmalen durch- geführt [Peacock et al., 2014]. ! Die Merkmale der Oberkiefer- hypoplasie waren: Anteil der sichtbaren Sklera („scleral show“) (MD1), Exorbitismus (MD2), „peri-alar hollowing“ (MD3), markante Nasolabialfalten (MD4), schmale Nasenbasis (MD5), konvexer Nasenrücken (MD6), überhängende Nasenspitze (MD7), stumpfer Nasolabialwinkel (MD8), dünne Oberlippe (MD9), überzogener Unterkiefer (MD10), und gestülpte oder markante Unterlippe (MD11). ! Die Merkmale der Unterkiefer- hyperplasie waren: vergrößerte thyromentale Distanz (Abstand zwischen Adamsapfel und Kinn, TMD) (MP1), straffes submentales Weichgewebe (MP2), stumpfer Gonion-Winkel (MP3), flache Labiomentalfalte (MP4), spitzer Kinnhalswinkel (MP5), vergrößerte Tiefe des unteren Gesichtsdrittels (MP6) und Weichgewebepogonion >5mm anterior bis Nullmeridian nach González-Ulloa (MP7). Die Bilder wurden von zehn MKG- Chirurgen unabhängig voneinander auf das Vorhandensein der 18 dysmorphen Merkmale untersucht. Jedes Merkmal erhielt eine Punkt- zahl von 1, wenn vorhanden, und 0, wenn nicht vorhanden oder un- bestimmt. Die Punktzahlen wurden zu Indizes von MD und MP addiert, so dass die maximale Gesamtpunkt- zahl für MD 11 und 7 für MP beträgt. Durchschnittlich 4,4 Gemälde wurden pro Person untersucht. Jede Expertise entstand unabhängig von- einander. Die Gesamtpunktzahl für jeden König und jede Dame wurde als Durchschnitt der Ergebnisse ermittelt. Vielen Adligen sah man die Inzucht an: Die ausgestülpte Unterlippe und die Nase mit Höcker und herabhängender Spitze sind auf dem Porträt Philip IV. (1605–1665) deutlich zu erkennen. | 37

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