Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 03

zm 110, Nr. 3, 1.2.2020, (160) S1-LEITLINIE ZU EINEM HÄUFIG NICHT ERKANNTEN KRANKHEITSBILD Okklusale Dysästhesie Bruno Imhoff Immer wieder kommen Patienten zu uns, bei denen Befund und Befinden nicht recht zusammenpassen (wollen) und unsere Maßnahmen zur Herstellung einer okklusalen Harmonie nicht den gewünschten Erfolg haben. Wenn diese Patienten zusätzlich über Beschwerden in anderen Körperregionen berichten, könnte es sich um okklusale Fehl- empfindungen handeln. Die Leitlinie gibt Hinweise für die Diagnostik und das Management dieses Beschwerdebildes. I m klinischen Alltag begegnen wir nicht häufig, aber immer wieder Patienten, bei denen es trotz großen Aufwands nicht gelingt, eine für sie zu- friedenstellende Okklusion einzustellen. Der Patient kommt überproportional häufig zu Nachbesserungen und hat meist eine sehr genaue Vorstellung davon, wo und was in Bezug auf die Okklusion störend ist. Zusätzlich wird meist auf ein Beschwerdebild in anderen Regionen des Körpers verwiesen, das durch den (vermeintlichen) Fehlbiss ausgelöst oder unterhalten wird. Es kann vorkommen, dass mehrfach und von verschiedenen Behandlern mit großem Aufwand die Einstellung einer für den Patienten komfortablen Okklusion versucht wird, aber alle an- sonsten wirksamen zahnärztlichen Maßnahmen nur kurzzeitig zu wirken scheinen, letztlich aber in der Bewer- tung durch die Patienten als nicht erfolgreich beschrieben werden. Die Behandlungssituation ist für beide Beteiligten emotional anstrengend und gibt Anlass für Missverständnisse und Konflikte, die immer wieder auch juris- tisch ausgetragen werden. Somit stellt die Erkennung des Krankheitsbildes, besonders auch im Rahmen juristischer Auseinandersetzungen, erhöhte An- sprüche an eine erweiterte Diagnostik, die in der Regel auch eine orientierende Abklärung von psycho-sozialen Faktoren erforderlich macht. Zur Vermeidung solcher Situationen ist eine Kenntnis des Beschwerdebildes „Okklusale Dysästhesie“ unerlässlich und dessen Erkennung therapie- leitend. Da eine zusammenfassende Darstellung bisher fehlte, hatte sich unter Führung der Deutschen Gesell- schaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) eine achtköpfige Arbeitsgruppe mit TeilnehmerInnen aus vier Fachgesellschaften gebildet, um eine entsprechende Leitlinie zu er- arbeiten. Diese wurde im Oktober 2019 von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) veröf- fentlicht und beschreibt den aktuellen Wissenstand. KLINISCHER BEZUG Zahnkontakte werden üblicherweise vom Menschen nicht bewusst wahr- genommen. Sie kommen beim Schlucken und (selten) beim Kauen vor, zudem im Rahmen von Bruxis- mus. Störende Fehlkontakte können im Rahmen restaurativer oder kiefer- orthopädischer Maßnahmen, nach Zahnverlust, durch skelettale Verände- rungen oder muskuläre Fehlhaltungen des Unterkiefers entstehen. Sie werden vom Patienten oft mit recht genauer Ortsangabe wahrgenommen und kön- nen mit ursachenbezogenen zahnärzt- lichen Maßnahmen erfolgreich ausge- glichen werden. Im Gegensatz hierzu beschreiben Patienten mit dem Beschwerdebild okklusale Dysästhesie sehr hartnäckig ein Fortbestehen von Fehlkontakten, auch wenn diese durch den Zahnarzt nicht nachvollzogen werden können (Abbildungen). Einige verwenden zahnärztliche Fachbegriffe, mit denen sie die Lage des Fehlkontakts be- schreiben und formulieren sehr genau, durch welche zahnärztliche Maß- nahme sie das Problem gelöst haben wollen. Die emotionale Bindung der Patienten an den Zahnarzt ist enger als üblich, die Heilserwartung besonders hoch. In der Regel liegen auch andere ganzkörperliche Beschwerden vor, die von den Patienten als durch die Okklusion verursacht bewertet wer- den. Es dominiert eine mechanistische Sicht auf die Verknüpfung unterschied- licher Krankheitssymptome. Ein mehr- dimensionaler Ansatz zum Krankheits- verständnis unter Einbeziehung psycho-sozialer Faktoren wird regelhaft abgelehnt. Studien haben gezeigt, dass bei den meisten dieser Patienten die Erstmanifestation in der Phase einer intensiven Belastung im Leben ent- steht, in der eine Zahnbehandlung bei bereits vorbestehender Krankheits- angst stattfand. Hierbei kann jede Art DEFINITION OKKLUSALE DYSÄSTHESIE Die okklusale Dysästhesie (OD) ist ein Beschwerdebild, bei dem Zahnkontakte, die klinisch weder als Fehlkontakte objektivierbar sind noch im Zusammen- hang mit anderen Erkrankungen (beispielsweise des Parodonts, der Pulpa, der Kaumuskulatur oder der Kiefergelenke) stehen, dauerhaft – länger als sechs Monate – als störend oder unangenehm empfunden werden. Der klinische Befund steht in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zu Inhalt und Stärke der beklagten Beschwerden. Die Patienten leiden unter einer starken psychischen und psychosozialen Belastung. 38 | ZAHNMEDIZIN

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=