Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 05

zm 110, Nr. 5, 1.3.2020, (444) ZUM „TAG DER SELTENEN ERKRANKUNGEN“ AM 29. FEBRUAR Genetisch bedingte Zahnnichtanlagen erkennen und therapieren Marcel Hanisch, Natalie Weber Zahnnichtanlagen können auch Symptom einer seltenen Erkrankung – der ektodermalen Dysplasie – sein. Trotz offensichtlicher Symptome dauert es aber teilweise Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Ist der Verdacht bestätigt, bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung im Einzelfall die implantologische Versorgung. E in damals 19-Jähriger (Abbildung 1) wurde 2017 in unserer interdis- ziplinären Implantatsprechstunde zur Beratung bezüglich seiner Zahn- nichtanlagen vorstellig. Äußerlich zeigte der Patient keine klassischen Merkmale einer ektodermalen Dysplasie wie beispielsweise eine Hypotrichose, er berichtete jedoch, dass er tendenziell wenig schwitze und seine Haut eher trocken und rissig sei. FALLBERICHT Beim intraoralen Befund imponierten neben multiplen Lücken ein partiell seitlich-offener Biss, eine auffällig konische Form der oberen mittleren Schneidezähne sowie persistierende Milchzähne (Abbildungen 2 bis 4). Zu- sammen mit der angefertigten Pano- ramaschichtaufnahme (Abbildung 5) konnte der Verdacht einer ausgepräg- ten Oligodontie bestätigt werden – ins- gesamt waren 22 Zähne inklusive der Weisheitszähne nicht angelegt. Auf Grundlage der bestehenden Befunde wurde der Verdacht einer genetischen Ursache der Symptome geäußert und dem Patienten zunächst eine molekular- genetische Abklärung mit der Ver- dachtsdiagnose „genetisch bedingte Zahnnichtanlagen / ektodermale Dys- plasie“ empfohlen. Bei der Sequenz- analyse wurde eine Mutation im WNT10A-Gen nachgewiesen und so- mit die klinische Verdachtsdiagnose bestätigt. Nun wurde gemeinsam mit dem Pa- tienten ein implantatgetragener Zahn- ersatz zur kaufunktionellen Rehabilita- tion gemäß Paragraf 28 Absatz 2 Satz 9 SGB V [G-BA, 2006] geplant, der letzt- lich genehmigt wurde. Nach Entfer- nung aller Milchzähne und einer sechswöchigen Abheilung des Weich- gewebes erfolgte unter intravenöser Se- dierung ein beidseitiger externer Sinus- lift, eine Knochenblockaugmentation im Unterkiefer sowie die Insertion von sechs Implantaten im Oberkiefer. Nach einer dreimonatigen Einheilphase er- folgte im Unterkiefer die Insertion von zwei Implantaten. Anschließend er- folgte die prothetische Versorgung des Patienten (Abbildung 6). Die Implantate wurden in Ober- und Unterkiefer mit vollkeramischen Kronen aus Zirkonoxid versorgt. Zum Lückenschluss in der Unterkieferfront wurde eine konventionelle vollkeramische Brücke angefertigt, mit der zugleich die Formanomalie der unteren Eckzähne korrigiert werden konnte. Die Kau- flächen der in Infraokklusion stehen- den Oberkiefermolaren wurden mit vollkeramischen Teilkronen aufgebaut. Auf diese Weise konnte ein funktionell und ästhetisch gutes Behandlungs- ergebnis erzielt werden. DISKUSSION Genetisch bedingte Zahnnichtanlagen treten insbesondere bei den ektoder- malen Dysplasien auf. Das ist eine heterogene Gruppe hereditärer, konge- nitaler Fehlbildungen mit entwick- lungsbedingten Dystrophien ektoder- maler Strukturen die etwa einen von 5.000 bis 10.000 Menschen betreffen [Wang et al., 2016] und somit zu den seltenen Erkrankungen zählen. Für ektodermale Dysplasien wurde kürzlich eine neue Klassifikation ver- öffentlicht, die diese nach Phänotyp, Genotyp und molekularem Signalweg klassifiziert und organisiert [Wright et al., 2019]. Abb. 1: 19-jähriger Patient mit äußerlich unauffälliger WNT10A-Mutation Abb. 2–4: Intraoraler Status des Patienten mit Oligodontie sowie Formanomalie an 11 und 21 und seitlich offenem Biss Abb. 5: Panoramaschichtaufnahme Abb. 6: Intraorale Situation nach prothetischer Versorgung Alle Fotos: UKM DR. MED. DENT. NATALIE WEBER Oberärztin, Poliklinik für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien, Universitätsklinikum Münster Waldeyerstr. 30, 48149 Münster Foto: UKM 1 2 78 | ZAHNMEDIZIN

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