Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 05

zm 110, Nr. 5, 1.3.2020, (447) Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung und Projektleiterin bei der Stiftung Lesen (siehe Interview). Gerade beim Thema Gesundheit könne eine gute Lesekompetenz darüber ent- scheiden, ob Vorsorge und Therapien optimal genutzt werden und erfolg- reich sind. pr/pm INTERVIEW MIT PROF. DR. SIMONE C. EHMIG, STIFTUNG LESEN DAS PROBLEM BEGINNT MIT DEM AUSFÜLLEN DES ANAMNESEBOGENS Warum Literalität auch in der Zahnmedizin eine wichtige Rolle spielt, erklärt Prof. Dr. Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung bei der Stiftung Lesen. Gesundheitsinformationen leichter verständlich zu machen – inwieweit ist das auch in der Zahnmedizin relevant? Prof. Simone Ehmig: Die Zahnmedizin ist ein zentraler Teil der Gesundheitsversorgung – und damit Anlaufstelle von PatientInnen mit jeglichem Bildungshintergrund. Ob Prophylaxe oder Behandlung von Erkrankungen, die MitarbeiterInnen zahnmedizinischer Praxen und Kliniken behandeln immer auch Personen mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten. Diese wiederum benötigen wie alle PatientInnen Information und Aufklärung zu Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten. Gerade gering literalisierte Personen sind benachteiligt, weil ihre Probleme mit Lesen und Schreiben sie im Umgang mit schriftbasierter Information und damit wesentlich auch in ihren Entscheidungen und im Handeln einschränken. Können Sie Beispiele nennen? Ganz konkret beginnen Probleme zum Beispiel bereits mit dem Ausfüllen von Anamnese-Fragebögen, für die man aus- reichend lesen und schreiben können muss. Zahnmedizinische Behandlungen sind häufig an Bewilligungsverfahren der Krankenkassen geknüpft, für die die PatientInnen wiederum Fragebögen ausfüllen und Beschreibungen von Behandlungs- optionen verstehen müssen. Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, scheitern an Broschüren zur Prophylaxe oder an den Beipackzetteln. Diese müssen nicht erst Medi- kamente betreffen, sondern sind zum Beispiel bereits für die Anwendung spezieller Pflegeprodukte, etwa hochdosierte Fluorid-Zahncremes, relevant. Und Beispiele aus der Medizin und Ernährung? Wer gut lesen und schreiben kann, bemerkt in der Regel nicht, wie hoch die Anforderungen an entsprechende Kompetenzen im Alltag sind und wie häufig wir sie benötigen. Wer nicht gut lesen und schreiben kann, lebt schon beim Einkaufen gefährlich, weil zum Beispiel verarbeitete Lebensmittel, die Allergene enthalten, nicht identifiziert werden. Erläuterungen zur Vorbereitung medizinischer Untersuchungen bleiben unverständlich – etwa wenn eine Darmspiegelung ansteht, deren Ergebnisse von der genauen Befolgung der Anweisun- gen abhängen. Auch Broschüren, Websites und anderes Informationsmaterial zu gesundheitsförderndem Verhalten erfordern gute Lesefähigkeiten, die nicht zuletzt gewährleisten, dass PatientInnen und ihre Angehörigen fundierte Sachinfor- mation von unseriösen Inhalten unterscheiden können. Wie kommt man aus Ihrer Sicht an die betroffenen Menschen heran? Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten sind im Zugang zu notwendigen Informationen für gesundheits- relevante Entscheidungen und eigenes Handeln häufig benachteiligt. Sie benötigen Angebote, die ihnen buchstäblich entgegenkommen: Texte in vereinfachter Sprache, möglichst illustriert oder mit eindeutigen Icons sind hier bereits hilfreich, ebenso akustische Ausgabeformate, zum Beispiel auf Websites. Allerdings kann Barrierefreiheit (die faktisch allenfalls Barriere- armut sein kann) nur symptomatisch helfen und Zugänge erleichtern. Ebenso wichtig sind Maßnahmen, um Lese- und Schreibfähigkeiten zu verbessern – von klein auf. Viele Erwachsene, die nicht gut lesen und schreiben können, haben es nie richtig gelernt beziehungsweise sie haben das, was sie konnten, später wieder verlernt. Hier müssen Ansätze zusammenwirken, die präventiv in der Kindheit ansetzen (über Vorlesen und andere Impulse früher Förderung) und aufholend Erwachsene dazu ermutigen, auch im späteren Leben ihre Lese- und Schreibfähigkeiten zu verbessern. Hierfür eignen sich Themen mit Bezug zu Gesundheit und Fitness, weil sie Menschen unmittelbar ansprechen und dazu beitragen, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dazu können aber auch Akteure im Gesundheitswesen beitragen. Ein Beispiel hierfür ist das Programm „Lesestart“ des Bundesministeriums für Bildung Forschung, das die Stiftung Lesen bundesweit durch- führt (www.lesestart.de ). Hier erhalten aktuell Eltern einjähriger Kinder im Rahmen der U6-Untersuchung beim Kinderarzt ein Lesestart-Set, das sie für die Bedeutung des Vorlesens sensibilisiert und für die Kinder ein erstes Bilderbuch enhält. Die Fragen stellte Gabriele Prchala. Die BZÄK und die KZBV unterstützen Patienten bei der Stärkung ihrer Gesundheitskompetenz. So bietet die BZÄK Mundpflege-Praxistipps für Pflegende an, Videos mit Tipps zur Mundpflege für Hochbetagte und Pflegebedürftige sowie einen textfreien Comic zur Zahnpflege von Klein- kindern. Die KZBV informiert mit zahlreichen Informationsbroschüren Patienten, Angehörige und Fachkräfte (teils in mehreren Sprachen), einer Webseite über Zahnersatz, einem virtuellen Rund- gang durch eine barrierearme Zahnarztpraxis oder einem Erklärvideo zum HKP. Außerdem haben BZÄK und KZBV mit Pflegeverbänden eine Broschüre zur Versorgung von Pflegebedürftigen erstellt, dazu ist ein Erklärvideo zur Verhütung von Zahnerkrankungen in Vorbereitung. Foto: Stiftung Lesen | 81

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