Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 06
zm 110, Nr. 6, 16.3.2020, (536) DIE KLINISCH-ETHISCHE FALLDISKUSSION Zwischen Humanitas und Justitia Zahnarzt Dr. W reist in seinem Urlaub nach Südamerika, um auf dem Land die dort lebende Bevölkerung im Rahmen eines Hilfsprojekts zahn- medizinisch zu versorgen. Ihm zugeteilt sind zwei Zahnmedizinstudenten, denen er wegen des enormen Patientenandrangs rasch freie Bahn lässt. Doch dann kommen ihm Zweifel: Kann er verantworten, dass den Menschen von den unerfahrenen Behandlern gegebenenfalls Schaden zugefügt wird? Und steht der humanitäre Antrieb zugunsten der Hilfsbedürftigen wirklich im Vordergrund – oder doch ganz egoistisch der persönliche Erkenntnis- gewinn der Famulanten? D r. W. hat sich vor fünf Jahren niedergelassen. Seit Längerem spielt er mit dem Gedanken, sich sozial zu engagieren. Nach reiflicher Überlegung entschließt er sich, in seinem Jahresurlaub im Rahmen einer Hilfs- organisation an einem zahnärztlichen Projekt in Südamerika teilzunehmen. Dort soll er mit anderen Teammitgliedern auf dem Gelände eines Klosters die Einwohner der umliegenden Dörfer zahnmedizinisch versorgen. Nach seiner Ankunft werden ihm durch eine Mitarbeiterin der Organisation zwei Zahnmedizinstudenten zugeteilt. Beide haben gerade das vorletzte Studienjahr absolviert und beabsichti- gen, ihr Studium im folgenden Jahr mit dem Staatsexamen abzuschließen. In einem ersten Gespräch betonen die beiden ihre humanitäre Motivation. Darüber hinaus hoffen sie, praktische zahnärztliche Erfahrung sammeln zu können, räumen aber auch ein, dass sie im Rahmen ihrer chirurgischen Ausbildung an der Universität bisher nur wenige einfache Extraktionen durchgeführt haben. „WIR WOLLEN EINFACH PRAKTISCHE ERFAHRUNG SAMMELN“ Das vorhandene Instrumentarium be- steht überwiegend aus einer über- schaubaren Anzahl an (oft nicht voll- ständigen) Sätzen zahnärztlicher Grundbestecke und Akku-betriebenen Handstücken. Ein dentales Röntgen- gerät ist nicht vorhanden und auch bei der Reinigung und Desinfektion der Instrumente liegen die Möglichkeiten deutlich unter den aus Deutschland gewohnten Standards. In den Sprechstunden, die von der Bevölkerung sehr gut angenommen werden, zeigt sich, dass der über- wiegende Teil der PatientInnen einen sehr schlechten Gebisszustand mit ent- sprechendem Behandlungsbedarf auf- weist. Die Therapie besteht vor allem aus mehrflächigen Füllungen oder der Extraktion nicht erhaltungswürdiger Zähne. W. kann sich dabei aber nicht nur um die Durchführung der Therapiemaßnahmen seiner eigenen PatientInnen kümmern, als approbier- ter Zahnarzt muss er vielmehr auch die beiden Zahnmedizinstudenten Foto: Gumprecht 26 | GESELLSCHAFT
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