Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 06

zm 110, Nr. 6, 16.3.2020, (538) beaufsichtigen, was im Hinblick auf die Anzahl der Hilfe suchenden Menschen nahezu unmöglich er- scheint. Er entscheidet sich daraufhin, ihnen „freie Hand“ bei der Therapie- wahl und -durchführung zu lassen, weist sie aber an, ihn bei Problemen augenblicklich zu informieren. „HIER IST SO VIEL LOS! IHR DÜRFT FREI ENTSCHEIDEN“ Nach einiger Zeit kommen W. aller- dings Zweifel an diesem Vorgehen. Er ist sich über die rechtliche Situation nicht mehr ganz sicher und es stellen sich aus seiner Sicht insbesondere auch ethische Fragen: \ In Deutschland dürfen – abgesehen von der universitären Ausbildung – nur approbierte Zahnärzte eigen- ständig behandeln. Nun soll er aber die Aufsicht über zahnärztlich praktizierende Studenten über- nehmen, obwohl ihm (losgelöst von der rechtlichen Bewertung) zumindest die formale Qualifika- tion und damit die Befugnis fehlt, die beiden methodisch und fach- lich zu beaufsichtigen. Kann er verantworten, dass den südameri- kanischen PatientInnen durch die Studenten bei allem Idealismus aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung unter extremen Behandlungs- bedingungen möglicherweise Schaden zugefügt wird? \ Oder sind diese Bedenken eher akademischer Natur, wenn die Bevölkerung ohne die Hilfs- organisation und den Einsatz der Studenten überhaupt nicht zahnmedizinisch versorgt würde? \ Und schließlich: Welche Rolle muss für ihn dabei die Motivation der beiden Studenten spielen, also die Frage, ob der humanitäre Antrieb zugunsten dieser Hilfs- bedürftigen im Vordergrund steht oder nicht vielmehr der Erfahrungs- gewinn, der möglicherweise auf die gesundheitlichen Kosten dieser Menschen geht? \ KOMMENTAR BERND OPPERMANN UND DR. GERALD NEITZKE „Der Zahnarzt muss die Studenten gemäß ihrem Ausbildungsstand einsetzen“ E ine Famulatur auf den Cook-Inseln oder in den Anden Perus? Abenteuerlust und Idealismus können den Einzelnen motivieren, eine Auslandsfamulatur in einem Land mit unzureichender Gesundheitsversorgung anzutreten. Für die ethische Analyse der geschilderten Situa- tion sollen zunächst die breit akzeptierten vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress angewendet werden (Prin- zipienethik). Konkret handelt es sich dabei um den Respekt vor der Patientenautonomie, das Gebot des Nichtschadens (nonmaleficence), das Prinzip des Wohltuns (beneficence) und das Gebot der Gerechtigkeit. Bei der Analyse sind die Konsequenzen für alle Beteiligten zu prüfen – und zwar sowohl in Bezug auf das gewählte Vorgehen als auch für den Fall, dass den Studierenden die Behandlung untersagt wird. Alle Bewertungen müssen in einen Abwägungsprozess einmünden, der dann wegweisend für die Entscheidung ist. Autonomie ist in liberalen, pluralistischen Gesellschaften ein anerkannter Grundwert. Auf diesem Prinzip fußt das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Für Patienten- autonomie bedeutet dies, dass durch empathisches Han- deln die Fähigkeit des Patienten zur Entscheidungsfindung gestärkt und die Entscheidung dann respektiert wird. Den vier Hauptprinzipien haben Beauchamp und Childress Prinzipien zweiter Ordnung hinzugefügt, die sich speziell auf das Arzt-Patient-Verhältnis beziehen. Im vorliegenden Fall sind vor allem die Glaubwürdigkeit (veracity) und Ehrlichkeit (fidelity) berührt. Daraus lässt sich ableiten, dass die Patienten im Rahmen des Informed Consent (neben Risiken und Alternativen) auch über den Ausbildungsstand der Studenten informiert wer- den müssen. Die Patienten darüber im Unklaren zu lassen, dass die Studenten über keine ausreichende chirurgische Erfahrung verfügen, wäre bevormundend und stark pater- nalistisch (und in Deutschland rechtswidrig). Gemäß Beauchamp und Childress darf starker Paternalismus aber nur angewendet werden, wenn vitale Interessen oder die Autonomie selbst auf dem Spiel stehen. Beides ist hier nicht der Fall, daher sind chirurgische Behandlungen durch die Studenten nicht zu rechtfertigen. Das Prinzip des Nichtschadens muss ebenfalls geprüft werden. Aufgrund der ungünstigen Arbeitsbedingungen OBERSTARZT PROF. DR. RALF VOLLMUTH Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de OBERFELDARZT DR. ANDRÉ MÜLLERSCHÖN Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg Werner-Heisenberg-Weg 39, 85579 Neubiberg andremuellerschoen@bundeswehr.org 28 | GESELLSCHAFT

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