Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 06
zm 110, Nr. 6, 16.3.2020, (540) KOMMENTAR DR. STEPHAN GRASSL „Nur wenn die Risiken unter Kontrolle sind, ist der Einsatz ethisch vertretbar“ A us der Vignette erwächst ein echtes Dilemma: Dr. W. muss sich zwischen zwei Alternativen entscheiden, die beide per se einen hohen Wert besitzen. Ent- scheidet er sich dafür, den Studenten freie Hand zu lassen, ermöglicht er zwar den humanitären Einsatz der Studieren- den, nimmt aber durch deren noch geringe Erfahrung und durch die mangelhafte Ausstattung der Einrichtung poten- zielle Behandlungsfehler in Kauf. Fällt die Entscheidung hingegen für ein Behandlungsverbot, werden mögliche iatrogene Schäden für die Patienten vermieden, gleichzeitig ihnen aber notwendige Therapien verwehrt und zusätzlich das soziale Engagement und ein Erfahrungsgewinn der Stu- denten verhindert. Welches ist das höhere Gut? Zur Ent- wicklung einer ausgewogenen Entscheidung ist es hilfreich, die bewährte deduktive Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress zurate zu ziehen. Die beiden Autoren haben in ihrer Abhandlung keinem der vier Prinzipien (Wohltuns- gebot, Nichtschadensprinzip, Patientenautonomie und Gerechtigkeit) einen ersten Rang zugewiesen. Der vorliegende Fall drängt uns jedoch dazu, der Einhaltung des Nichtschadensgebots genauere Aufmerksamkeit zu (unzureichendes Instrumentarium, keine Röntgendiagnostik), des Ausbildungsstands und der Unmöglichkeit, die Studenten anzuleiten und zu beaufsichtigen, besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Komplikationen, die durch die Studenten nicht vorhergesehen oder therapiert werden können. Dr. W. könnte die Patienten bei Problemen nicht ausreichend vor Schäden schützen, die während der Be- handlung auftreten. Das erhöhte Komplikationsrisiko durch die Studentenbehandlung verletzt das Gebot des Nicht- schadens. Für das alternative Vorgehen, nämlich eine Be- schränkung auf ausbildungsgerechte Behandlungen, lassen sich aber ebenfalls schädliche Konsequenzen identifizieren: Möglicherweise wird bei einzelnen Patienten eine recht- zeitige und erfolgreiche Behandlung zu ihrem Schaden unterlassen. Ein Schaden für die Studierenden ist hingegen nicht zu erkennen, da sie ja keinerlei Anspruch auf die Durchführung chirurgischer Eingriffe haben. Kontrovers lässt sich das Prinzip des Wohltuns diskutieren. Aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten Südamerikas kann prinzipiell jedes Hilfsprojekt die Versorgungslage der Bevölkerung verbessern. Vereinfacht könnte man sagen: Unqualifizierte Hilfe ist besser als gar keine Hilfe. Auch für die Studenten hat die chirurgische Behandlung positive Konsequenzen, da sie – zulasten ihrer Patienten – zahnärztliche Eingriffe erlernen können. Allerdings besteht die Gefahr, dass durch die Behandlungstätigkeit der Studenten Ressourcen genutzt werden, die an anderer Stelle fehlen. Treten zusätzlich Komplikationen auf, die dann von W. behandelt werden müssen, fehlt seine Arbeitskraft ander- weitig. Außerdem könnten die Studenten einheimisches Personal binden, das dann andere Arbeiten nicht durchführen kann. Diese Punkte berühren das letzte Prinzip der Gerechtigkeit . Die von den Studenten gebundenen Ressourcen stehen anderen Patienten nicht mehr zur Verfügung. Es sind aber auch Tätigkeiten der Studenten denkbar, durch die den Patienten ein Nutzen entsteht. Dies wären z. B. Mund- hygieneinstruktionen, einfachere Füllungen, Befundaufnah- men oder Vorbehandlungen, durch die die Arbeit von W. effizienter gestaltet werden kann. So würde der Einsatz der Studenten möglichst vielen Patienten gerecht. W. sollte die Lösung seines Problems durch das Abwägen der einzelnen Prinzipien finden. Wir sind der Ansicht, dass eine chirurgische Behandlung durch Studenten alle vier geprüften Prinzipien verletzt, ohne dass dies vom Nutzen für die Studenten aufgewogen wird. Es obliegt der Verant- wortung von W., die Studenten nur ihrem Ausbildungs- stand entsprechend einzusetzen. Der ethische Wert der Verantwortung, der in der Prinzipienethik nicht vorkommt, ist also für eine praktische Lösung unverzichtbar. \ DR. GERALD NEITZKE Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover neitzke.gerald@mh-hannover.de Foto: mhh DR. BERND OPPERMANN Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover Niedergelassener Zahnarzt in Hildesheim bernd.oppermann.za@arcor.de Foto:privat 30 | GESELLSCHAFT
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