Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 06
zm 110, Nr. 6, 16.3.2020, (584) MINIMALINVASIV BEHANDELN Vitalerhaltung der Pulpa – step by step Till Dammaschke In diesem Beitrag wird das klinische Vorgehen bei der Versorgung einer freigelegten Pulpa mithilfe neuer Materialien – Kalziumsilikatzemente, Mineral Trioxide Aggregat/MTA oder Biodentine TM – anhand von Bildern erklärt. Schritt für Schritt. N och heute findet sich teilweise die antiquierte, weil auf nicht geeigneten Behandlungskonzepten fußende Lehrmeinung, dass eine direkte Überkappung der Pulpa nach Freilegung im Rahmen der Kariesexkavation keine gute klinische Prognose hat und daher kontraindiziert ist. Der Einsatz neuer Materialien bietet jedoch die Möglich- keit, das Pulpagewebe langfristig vital zu erhalten und es vor dem Eindringen von Mikroorganismen und deren toxischen Stoffwechselprodukten zu schützen. Die erfolgreiche Vitalerhaltung der Pulpa setzt eine heilungs- fähige Pulpa voraus, das heißt, das Pulpagewebe sollte ge- sund oder allenfalls reversibel geschädigt sein. In der Praxis besteht das Problem, dass der genaue Zustand der Pulpa mit diagnostischen Mitteln nicht oder nur unzureichend eruiert werden kann. Dabei ist die Durchblutung das genaueste Kriterium zur Bestimmung der Pulpavitalität, da sie Auskunft darüber gibt, ob das Pulpagewebe nekrotisch oder vital ist [Abbott und Yu, 2008]. Neben der Schmerzanamnese und der Sensibilitätsprobe sollte daher im Fall einer Pulpaexposition auch die Blutung des Gewebes bewertet werden. Dies kann zu einer zuverlässigeren Diagnose führen, um den Status einer Pulpainfektion zu bestimmen [Matsuo et al., 1996]. Bei Exposition im kariösen Dentin und einer Penetration von Bakterien erstreckt sich die Entzündungsreaktion tiefer ins Pulpagewebe hinein und die Gewebeblutung ist stärker [Langeland, 1981]. Blutungen können daher den Grad der Entzündung der Pulpa widerspiegeln [Christensen, 1998]. Freigelegtes Pulpagewebe mit starken oder anhaltenden Blu- tungen hat eine signifikant schlechtere Chance auf Heilung als eine Pulpa, die nur eine mäßige Blutung zeigt oder eine Blutung aufweist, die nach kurzer Zeit gestoppt werden kann [Matsuo et al., 1996]. Ist das Pulpagewebe gesund, sollte daher die Pulpablutung innerhalb von fünf Minuten kontrolliert werden können [Kang et al., 2017]. Gelingt die Blutstillung innerhalb dieser Zeit nicht, deutet dies darauf hin, dass die Pulpa irreversibel entzündet ist und eine voll- ständige Pulpotomie oder Pulpektomie wird empfohlen [Wolters et al., 2017]. Eine suffiziente Blutstillung ist also für die Diagnostik vor einer direkten Überkappung essenziell. Eine Hämostase ist aber auch deshalb so entscheidend für den Behandlungs- erfolg, da das Überkappungsmaterial (gleich welcher Art) in direkten Kontakt mit dem vitalen Pulpagewebe kommen muss; es darf kein Blutkoagulum zwischen Überkappungs- material und dem Pulpagewebe verbleiben [Schröder, 1972]. Natriumhypochlorit (NaOCl) in einer Konzentration von 2,5 bis 5 Prozent gilt derzeit als die effektivste, sicherste und kostengünstigste hämostatische Lösung für die Blut- stillung an der Pulpa [Witherspoon, 2008]. VOR DER ÜBERKAPPUNG IST DIE BLUTSTILLUNG ESSENZIELL Kalziumhydroxid-Suspensionen gelten als das universelle Standardmaterial für die Vitalerhaltung. Zu den Nachteilen von Kalziumhydroxid gehören allerdings die schlechte Ab- dichtung am Dentin, die mechanische Instabilität und die Resorption über die Zeit [Staehle, 1990]. Die Vorteile der Kalziumsilikatzemente gegenüber den Kalziumhydroxid-Produkten liegen in der höheren mecha- nischen Festigkeit, der geringeren Löslichkeit und der besseren Abdichtung des Dentins. Nachteile von Kalzium- hydroxid werden bei der Verwendung von Kalziumsilikat- zementen vermieden [Dammaschke et al., 2014]. Eine bakterielle Infektion des Gewebes während und nach der Therapie muss grundsätzlich sicher ausgeschlossen werden. Dies setzt eine Verwendung von Kofferdam und sterilen Instrumenten, eine vollständige Exkavation der Karies sowie eine definitive bakteriendichte koronale Restauration in der gleichen Behandlungssitzung voraus [Bogen et al., 2019]. Die negativen Auswirkungen einer temporären Versorgung nach Überkappung wurden sowohl für Kalziumhydroxid als auch für Kalziumsilikatzemente nachgewiesen. Temporäre Versorgungen können zu deutlich niedrigeren Erfolgsraten führen [Schäfer und Dammaschke, 2019]. 74 | ZAHNMEDIZIN
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