Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 07
zm 110, Nr. 7, 1.4.2020, (654) KARL-HÄUPL-KONGRESS IN KÖLN Schon wieder einer mit „Morbus Bosporus“ Wer die Landessprache nicht beherrscht, hat oft große Probleme, dem Arzt zu vermitteln, woran er leidet. Auch weil er oft nicht ernst genommen wird: Der Begriff „Morbus Bosporus“ zeugt davon, wie Prof. Dominik Groß auf dem Karl-Häupl-Kongress in Köln berichtete. R und 16 Millionen Menschen sind in Deutschland vul- nerable Patienten, sagte Groß, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls der RWTH Aachen. „Patienten können aus verschiedenen Gründen vulnerabel sein.“ Er widmete sich in seinem Vortrag Menschen, die „sozial bedingt“ vulnerabel sind: Migranten und Patienten ohne Aufenthaltserlaubnis. Jeder Fünfte in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte, im Jahr 2050 voraussichtlich jeder Zweite. Aufgrund der Kommunikationsprobleme werden sie mehr diagnostischen Untersuchungen unterzogen und erhalten mehr Arzneimittelverordnungen als ihre deutschstämmigen Mitbürger. Ärzte müssen also viel Zeit und Verständnis auf- bringen, um herauszufinden, woran der Patient tatsächlich leidet. Dabei spielt auch eine Rolle, ob das Land, aus dem die Menschen kommen, ein ähnliches Gesundheitssystem wie Deutschland hat oder nicht. Auch die Frage, ob ein Pa- tient seine Krankheit als schicksalhaft betrachtet oder darauf vertraut, aktiv etwas gegen die Beschwerden unternehmen zu können, ist wichtig. DIE ÄRZTE GLAUBEN DEN PATIENTEN DIE SCHMERZEN NICHT Wer sich in einer fremden Sprache nicht auf Anhieb korrekt auszudrücken vermag, läuft Gefahr, dass Witze über ihn gemacht werden. Das führt zu Vorurteilen, die sich Groß zufolge zum Beispiel im negativ konnotierten Begriff „Morbus Bosporus“ niederschlagen – so bezeichnen manche Ärzte Patienten, die intensiv wehklagen und an deren Intensität der Schmerzen sie auch deshalb zweifeln. Auch „Morbus mediterraneus“, „anatolischer Schmerz“, „Morbus Balkan“ oder „Mamma-mia-Syndrom“ seien Stigmatisierun- gen für dieses Verhalten. Groß: „Es ist die Unterstellung einer ethnisch oder kulturell bedingten Andersartigkeit der Betroffenen.“ Klärungsbedürftig bleibe, ob hierbei tatsächlich eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit oder eine erhöhte beziehungsweise andersartige Schmerzäußerung vorliegt, sagt Groß. „Men- schen mit unterschiedlicher kultureller Prägung artikulieren ihre Gefühle unter Umständen auf unterschiedliche Weise – als Ausdruck des jeweiligen kulturellen Codes.“ Auch bei Todkranken herrschten bei Patienten mit Migrationshinter- grund oft andere Regeln als diejenigen, die Menschen hierzulande gewöhnt sind: Entscheidungen zu Behandlun- gen treffe häufig nicht der Patient, sondern das Familien- oberhaupt. AM BESTEN NIMMT MAN DEN PATIENTEN AN, WIE ER IST Groß rät dazu, in der Zahnarztpraxis darauf zu achten, Pa- tienten mit Migrationshintergrund mit ihren Eigenheiten anzunehmen. Wer aufmerksam und offen ist und keine Vorurteile hegt, signalisiere dem Patienten, dass er und seine Schmerzen ernst genommen werden. Die Anstellung von Fachpersonal mit Migrationshintergrund sei ebenfalls ein Weg, um eine bessere Verständigung zu ermöglichen. silv In der „Guten Stube Kölns“, dem Gürzenich, trafen sich rund 700 Zahnärzte zum Karl-Häupl-Kongress. Foto: zm_silv Dr. Peter Engel, Präsident der Bundeszahnärzte- kammer, erinnerte an ein wichtiges Problem der Branche: „Für die neue Approbationsordnung, die ab Oktober gilt, gibt es derzeit weder einen Finanzierungsplan noch eine Definition des Gesamt- umfangs der Lehrveranstaltungen. Damit fehlen uns Schlüsselvoraussetzungen für das Zahnmedizin- Studium. Das ist ein Unding und eine Zumutung für die Universitäten.“ 12 | POLITIK
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