Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 08

zm 110, Nr. 8, 16.4.2020, (835) Versetzung in das SS-Sanitätsamt. Es folgten weitere Stationen, bis er im Oktober 1943 in der Dienststelle des Reichsarztes-SS Ernst-Robert Grawitz landete. Hier arbeitete Kunz für Hugo Blaschke, den „Obersten Zahnarzt“ der Waffen-SS. 15 EIN UNTERKIEFERABSZESS IM FÜHRERBUNKER Das Jahr 1945 sollte zu Kunz‘ Schicksals- jahr werden: Im Januar 1945 wurden seine Töchter Maren (1) und Maike (4) bei einem alliierten Luftangriff ge- tötet 16 , und am 23. April 1945 wurde Kunz offiziell als Zahnarzt in den Bun- ker der Reichskanzlei versetzt, während Blaschke auf Befehl Hitlers Berlin ver- ließ. 17 Zu seinen Patientinnen zählte Magda Goebbels, die mit ihrer Familie ebenfalls in den Bunker gezogen war. Kunz behandelte einen Unterkiefer- abszess, der sich unter einer Brücke ge- bildet hatte. Zum Dank verschaffte Goebbels Kunz das Privileg, die Mahl- zeiten im „Führerbunker“ einnehmen zu dürfen. 18 Zu jenem Zeitpunkt spielte Magda Goebbels bereits mit dem Gedanken eines erweiterten Suizids (unter Einbeziehung ihrer sechs Kin- der), da sie eine Existenz in einer Welt ohne Nationalsozialismus kategorisch ablehnte. 19 Wenige Tage später, so die Aussage von Kunz, 20 rief Magda Goebbels ihn an und bat ihn um Hilfe bei der Tötung ihrer Kinder. Kunz habe dies vehement abgelehnt. Goebbels habe daraufhin eingeräumt, dass Hitler eigentlich bereits seinem Begleitarzt Ludwig Stumpfegger den Auftrag zur Tötung der Kinder erteilt hatte; sie befürchtete jedoch, dass sich die Ereignisse über- schlagen könnten und Stumpfegger gegebenenfalls nicht mehr in der Lage wäre, den Befehl auszuführen. Um der Situation zu entkommen, habe Kunz den Bunker verlassen und im Lazarett im Hotel Adlon Zuflucht gesucht; er sei jedoch schon bald in die Reichs- kanzlei zurückbeordert worden. Am Morgen des 1. Mai 1945 – dem Tag nach Hitlers Suizid – habe Magda Goebbels Kunz dann in die Pflicht nehmen wollen. Er habe jedoch einen Kompromiss ausgehandelt, wonach er selbst den Kindern Morphium spritzen und Magda Goebbels nachfolgend Cyanidkapseln verabreichen sollte. Abends habe Kunz den Kindern tat- sächlich Morphium injiziert, doch danach habe sich Magda Goebbels unter Tränen an ihn gewandt, da sie sich außerstande sah, ihre Kinder zu töten. Kunz habe ihre Bitte um Hilfe erneut abgelehnt und wurde daraufhin gebeten, Stumpfegger zu holen. Dieser habe sich zunächst geweigert; erst als Kunz gedroht habe, Joseph Goebbels zu informieren, habe Stumpfegger mit Magda Goebbels das Kinderzimmer be- treten. Beim Verlassen des Kinder- zimmers habe diese Kunz signalisiert, dass alles vorbei sei. Kurz darauf suizidierten sich Magda und Joseph Goebbels – ebenfalls noch am 1. Mai. Am Folgetag beging auch Stumpfegger während eines Ausbruchversuchs aus dem von der „Roten Armee“ einge- schlossenen Berlin Suizid, 21 während Kunz mit weiteren Bunkerinsassen – darunter Werner Haase, der am Kriegsende als Chirurg im Lazarett der Reichskanzlei fungierte – von den Sowjets gefangen genommen wurde. 22 Letztere untersuchten den Tod der Goebbels-Kinder und verhörten auch Kunz. Diesem war der Suizid des Ehe- paars Goebbels bekannt, der Tod Stumpfeggers aber wohl nicht. Seine Aussagen waren widersprüchlich: 23 So erklärte er am 7. Mai 1945, dass Magda Goebbels die Kinder vergiftet habe und er lediglich Tatzeuge gewesen sei. Am 19. Mai 1945 – vielleicht nachdem ihm klar geworden war, dass er keine Gegendarstellung Stumpfeggers fürch- ten musste – korrigierte er seine Aussage dahingehend, dass Stumpfegger an der Tötung der Kinder mitgewirkt habe. Kunz wiederholte diese zweite Version bei seinem späteren Prozess in der Bundesrepublik. Er bestritt nicht, dass er Morphium injiziert hatte – letzteres konnte er gefahrlos einräumen, denn er kannte spätestens zu diesem Zeit- punkt den sowjetischen Untersuchungs- bericht: Demnach waren die Kinder nicht an einer Überdosis Morphium, sondern an einer Blausäurevergiftung verstorben. 24 GEFANGENSCHAFT UND STRAFFREIHEIT Kunz verbrachte mehr als zehn Jahre als Kriegsgefangener in der Sowjet- union, fast sieben Jahre davon in Untersuchungshaft. Am 13. Februar 1952 wurde er vom Moskauer Militär- gericht zu 25 Jahren Haft in einem Gefangenenlager verurteilt – unter anderem aufgrund seiner Beteiligung an der Tötung der Goebbels-Kinder. Er war damit nachweislich einer von 48 Zahnärzten, die nach 1945 als Kriegs- verbrecher vor Gericht standen. 25 Doch am 20. Oktober 1955 kam Kunz überraschend frei: Konrad Adenauer hatte die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen ausge- handelt. 26 Zurück in Deutschland verschwieg Kunz, dass er aufgrund seiner Beteiligung an der Tötung der Goebbels-Kinder verurteilt worden war – vermutlich aus Angst vor einer neuer- lichen Anklage. Stattdessen erklärte er seine Inhaftierung mit seiner NSDAP- Mitgliedschaft und dem Umstand, dass er hochrangige Mitglieder des NS- Regimes behandelt habe. 27 Besagte Foto: pd Helmut Kunz 15 BArch Berlin, R/9361/III/538811; LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Deprem-Hennen/Westemeier, 2018, 105–126; Heit et al., 2019, 998; 16 BArch Berlin, R/9361/III/538811; LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Heit et al., 2019, 998; 17 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Deprem-Hennen/Westemeier, 2018, 105–126; Heit et al., 2019, 998; 18 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Eberle/Uhl, 2005; Heit et al., 2019, 998; 19 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Heit et al., 2019, 998; 20 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Heit et al., 2019, 998; 21 Kaiser, 2018, 97; 22 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1: CV, 281; Heit et al., 2019, 998; 23 Bericht vom 04.06.1945, abgedruckt in: Bacon/Romanowska/Chumbley, 2005, 110–113; Heit et al., 2019, 998; 24 Besymenski, 1982; Bacon/Romanowska/Chumbley, 2005; Heit et al., 2019, 998; 25 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020, in press; Groß, 2020, 28–30; 26 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Heit et al. (2019), 999. 27 LA NRW, Q225 PPOM No 316, Vol. 1; Heit et al., 2019, 999 | 73

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