Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 110, Nr. 9, 1.5.2020, (896) Zahnmedizin in der Corona-Krise Was wir wissen und was vermutet wird Christoph Benz Es liegt in der Natur von Epidemien, dass der Erkenntnisgewinn gerade am Anfang als hochdynamischer Prozess abläuft, der permanenten Veränderungen unterliegt. Forschung findet überall auf der Welt zeitgleich statt, die Konso- lidierung der Ergebnisse im Abgleich mit den gemachten Erfahrungen macht erst evidentes Handeln möglich. Politik wie auch Wissenschaft müssen daher ständig Erkenntnis und Handeln neu justieren. Gerade die praktische Zahn- medizin ist im Zuge der Corona-Krise davon in einem kaum vorhersehbareren Maß betroffen. Zeit für eine Analyse. D er permanente Corona-Fokus der Medien trifft auf die nahe- liegende Furcht vor einer Erkrankung in der Bevölkerung und verstärkt die Angst vor einer Infektion. Im Ergebnis führt dies zu einer nach- vollziehbaren, aber dennoch sehr subjektiven Sichtweise des Einzelnen: „Ich darf mich nicht infizieren.“ Die Gesamtgesellschaft hat ein anderes Ziel: Für die Herdenimmunisierung müssen sich im bisherigen Verständnis viele infizieren, aber nicht so viele zugleich, dass unser Gesundheits- system überfordert wäre. Wenn beson- derer Schutz notwendig ist, dann für Risikogruppen. Dabei erkennen wir aber jetzt schon, dass dieser Schutz eine Isolation bedeutet, deren psy- chische Folgen wir wohl nicht lange aushalten werden. Welche Merkmale sollte nun ein Beruf wie die Zahnmedizin erfüllen, um den gesellschaftlichen Corona-Zielen gerecht zu werden? Zwei Merkmale wären dies wohl: 1. Die Infektionszahlen im Beruf und bei den Patienten sollten nicht höher liegen als im poli- tisch angestrebten Bevölkerungs- durchschnitt. Aktuell vielleicht sogar mit dem Ziel eines „Con- tainment“, das heißt einer Repro- duktionsrate kleiner als eins. 2. Ein besonderer Schutz für das Team und für die Patienten mit besonderem Risiko muss möglich sein. Wie schlägt sich die Zahnmedizin im Licht des aktuellen Kenntnisstands an- gesichts dieser beiden Merkmale? DIE GEFAHR FÜR DAS ZAHNÄRZTLICHE TEAM Infektionsberichte liegen inzwischen aus drei Hotspot-Regionen vor: \ In Wuhan, dem Ground-Zero der Pandemie, lief unbewusst und ungeplant eine Feldstudie, bei der man kein Zyniker sein muss, um wissenschaftliche Merkmale iden- tifizieren zu können: Weder die Zahnärzte und Ärzte noch die Patienten in Hubei wussten im Dezember und im Januar von der Epidemie, die Situation entsprach also einer Doppelverblindung. Es gab eine Kontrollgruppe (die Allgemeinmediziner) und gewertet wurde ein harter Endpunkt (Covid-19). Das Ergebnis kann Mut machen. Denn obwohl etwa 120.000 Patienten ohne Kenntnis vom Ausmaß der Epidemie unter üblichen zahnmedizinischen Be- dingungen – einfacher Mund- schutz, Aerosol-Kühlung, Stoff- kittel – behandelt wurden, haben sich von den 1.098 Mitarbeitern der Universitätszahnklinik Wuhan nur 9 infiziert: 3 Zahnärzte, 3 ZFAs, 2 Verwaltungsmitarbeiterin- nen und 1 postgradualer Student [Meng et al., 2020]. Drei davon mit hoher Wahrscheinlichkeit privat, sechs der Mitarbeiter mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Arbeit in der Klinik. Im gleichen Zeit- raum infizierten sich „Tausende“ Mitarbeiter des Gesundheitswesens bei der Behandlung von Patienten. Mindestens 46 Ärzte und Bediens- tete sind gestorben – vorrangig in den Bereichen HNO und Ophtalmologie. Foto: AdobeStock_ Natalya Lys Foto: AdobeStock_evelinphoto 30 | POLITIK

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