Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09
zm 110, Nr. 9, 1.5.2020, (921) dann – im Mai 1940 – zum Standort- arzt im Frauen-KZ Ravensbrück beför- dert. Hier lernte er seine spätere Frau, die Gynäkologin Gerda Weyand 11 ken- nen – sie war dort ebenfalls KZ-Ärztin. Augenzeugen zufolge führte Sonntag in Ravensbrück auch sogenannte „Ab- spritzungen“ durch. Dabei handelte es sich um tödliche Einspritzungen an „arbeitsuntauglichen“ Insassinnen (oft mit dem Wirkstoff Phenol): „Ungefähr fünfmal sahen wir Dr. Sonntag abends in den Krankenbau kommen mit einer Spritze in der Hand, ohne daß er von uns, wie es sonst der Fall war, Assistenz verlangt hätte. Wir hörten, wie er in ein Zimmer ging, und am folgenden Morgen fanden wir in diesem Zimmer eine Leiche.“ Die Aufnahmeuntersuchungen führte Sonntag den Betroffenen zufolge unter Gewaltanwendung und mit der Reit- peitsche durch. Die Frauen mussten nackt vor ihn treten: „Die ärztliche Untersuchung beruhte nur auf Ver- abreichung von Schlägen und Fuß- tritten.“ 12 Nach 1945 wurde mehrfach bezeugt, dass Sonntag Häftlinge brutal misshandelt habe – unter anderem mit Schlägen ins Gesicht und Peitschen- hieben in die (eiternden) Wunden erkrankter Häftlinge. Zudem sei es vorgekommen, dass er auch seine Frau geschlagen habe. Überdies wurde an seiner Fachkompetenz gezweifelt: Entgegen seiner Funktion als Standort- arzt sei er bekanntermaßen „kein rich- tiger Arzt, sondern nur ein Zahnarzt gewesen“. Schließlich habe er seine „Revierstunden“ in betrunkenem Zustand abgehalten. 13 Über die Misshandlungen und die „Abspritzungen“ hinaus war Sonntag auch an den tödlichen Selektionen von KZ-Häftlingen beteiligt. 14 Nach rund eineinhalb Jahren wurde Sonntag in Ravensbrück durch Gerhard Schiedlausky ersetzt. Anlass für den Wechsel war aber nicht etwa die weit- hin bekannte Misshandlung der weib- lichen Häftlinge, sondern „die Liebes- beziehung zu seiner späteren Frau“ sowie der Umstand, dass ein „Ehe- mann als Vorgesetzter seiner Frau an der gleichen Stelle“ beschäftigt war. 15 So wurde Sonntag Anfang Dezember 1941 an die Ostfront versetzt. ER „LEGITIMIERTE“ DIE ZWANGSSTERILISATIONEN Schäfer zufolge hatte er sich freiwillig als Truppenarzt an die Front gemeldet, wogegen Stoll von einer „Zwangs- versetzung“ ausgeht, was in Anbetracht der Kritik am „Zusammenwirken“ des Ehepaars Sonntag in Ravensbrück wahrscheinlicher sein dürfte. 16 In jedem Fall klagte Sonntag im Osten nach einigen Monaten über Herzbeschwerden und Beklemmungsgefühle, so dass er Anfang Oktober 1942 nach Dachau in die „Gesundheits- und Versorgungs- prüfstelle der Waffen-SS“ versetzt wurde. 17 Hier nahm er die Arbeit an seiner zweiten Dissertation auf, die er 1943 in München erfolgreich als Promotions- leistung vorlegte. Sie befasste sich mit der „Medizinalgesetzgebung seit 1933“ und bekräftigte die rechtlichen Maß- nahmen zur Umsetzung der verbreche- rischen „NS-Gesundheitspolitik“ wie die Zwangssterilisation vermeintlich „erb- kranker“ Mitbürger. Hierbei resümiert Sonntag: ,,In der Erkenntnis, daß nur ein erbgesundes, hochwertiges Volk die Voraussetzung für einen gefestigten Staat darstellen kann, hat die Staats- führung durch eine zielbewußte Gesetzgebung die Volksentwicklung in die richtigen Bahnen gelenkt.“ 18 1943 wurde Sonntag dann erster Stand- ortarzt im KZ Natzweiler-Struthof und 1944 war er im Nebenlager Jamlitz des KZ Sachsenhausen tätig. Noch Anfang März 1945 glaubte Sonntag einem selbst verfassten Brief zufolge an den „Endsieg“ 19 . Wenig später wurde er in Kärnten von den Briten festgenommen und inhaftiert. Im Sommer 1945 er- folgte seine Verlegung nach Graz: Hier durfte er als Zahnarzt Mitgefangene be- treuen und genoss alsbald Sonderrechte. So musste er nicht im Lager übernach- ten, sondern durfte in einem Vorort von Graz in einer Villa wohnen und für die zahnärztliche Versorgung der in den Außenlagern untergebrachten Mitgefangenen einen Dienstwagen nutzen. Doch diese Sonderbehandlung währte nur kurz: Im April 1947 wurde Sonntag nach Minden verbracht, wo er in Einzelhaft kam, und im Juli 1947 erfolgte seine Verlegung ins Kriegs- gefangenenlager Hamburg-Fischbeck. 20 Sonntag wurde im „Vierten 21 Ravens- brück-Prozess“, der unter britischer Gerichtsbarkeit stand, wegen Miss- handlungen, Folter und Ermordung weiblicher Häftlinge mit britischer beziehungsweise alliierter Staatsange- hörigkeit angeklagt. Besagter Prozess dauerte von Anfang Mai bis Anfang Juni 1948. Bei allen Angeklagten handelte es sich um Vertreter des ehemaligen medizinischen Personals des KZ Ravensbrück. Sonntags Menschenversuche in Sachsen- hausen waren nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Doch die erhobenen Anklagepunkte – die Misshandlung von KZ-Insassen, die Applikation töd- licher „Einspritzungen“ und die tod- bringende Selektion an der Rampe in Ravensbrück – waren ohnehin gravie- rend. Gerade der Vorwurf der Selektion erhärtete sich zudem im Verlauf des Verfahrens. Sonntag reagierte auf die betreffende Anklage mit der eigenwilli- gen Behauptung, „es seien nur ‚ Reichs- deutsche‘ zur Ermordung selektiert worden. Damit sei das alliierte Gericht für ihn nicht zuständig.“ 22 11 Klee, 2013, 588; 12 Klee,2003, 292; 13 Schäfer, 2002, 146; Groß, 2018, 171; 14 Stoll, 2002, 926–928; Klee, 2003, 293; 15 Schäfer, 2002, 145; 16 Schäfer, 2002, 145f.; Stoll, 2002, 929; 17 Stoll, 2002, 929; 18 Sonntag, 1943, insb. 34; 19 Stoll, 2002, 931; 20 Ebenda; 21 Stoll schreibt hierbei irrtümlich vom siebten Ravensbrück-Prozess: dies., 2002, 932; 22 Klee, 2003, 292 PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat | 55
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