Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09
zm 110, Nr. 9, 1.5.2020, (922) Wie ernst Sonntag die Anklage einschätzte, zeigen seine Versuche, Entlastungszeugen zu akquirieren. Da- bei gelang es ihm, „ein regelrechtes Netzwerk von Personen aufzubauen, die ihn dabei unterstützten, seine Ver- gangenheit umzudeuten“, und für ihn eintraten, darunter der Justizminister des Saargebiets und eine Reihe kirch- licher Würdenträger wie Kardinal Josef Frings. 23 Sonntags Strategie war ebenso einfach wie unmissverständlich: Er wies im Prozessverlauf konsequent jede Schuld von sich. IM SEPTEMBER 1948 WURDE ER IN HAMELN ERHÄNGT Doch seine Versuche liefen ins Leere: Am 4. Juni 1948 wurde er in Hamburg zum Tod durch den Strang verurteilt. Noch am Tag der Urteilsverkündung wurde er aus dem Gefängnis Altona ins Zuchthaus in Fuhlsbüttel verlegt. Im Juli 1948 wurde das Urteil bestätigt. Drei Tage nach der Bestätigung des Ver- dikts formulierte Sonntag ein Gnaden- gesuch, in dem er eidesstattlich erklärte, dass er „niemals einem Häftling be- wußt einen Schaden zugefügt“ 24 habe. Nur acht Wochen später – am 15. Sep- tember – wurde er in das Zuchthaus Hameln, die Hinrichtungsstätte der britischen Besatzungszone, überstellt. Dort wurde der Schuldspruch – Tod durch Erhängen – am 17. September 1948 vollstreckt. 25 Sonntag war damit einer von insgesamt zwei Zahnärzten, die nach 1945 vor einem britischen Gericht zum Tode verurteilt wurden. Auffällig ist, dass Großbritannien damit von allen alliier- ten Gerichtsbarkeiten die wenigsten Todesstrafen aussprach 26 : Allein sechs der 15 gegen Zahnärzte verhängten Todesurteile gingen auf französische Gerichte zurück, jeweils drei auf US-amerikanische und sowjetische In- stanzen und eine auf das Militärgericht Belgrad. Dass Sonntag mit der Höchststrafe belegt wurde, lag zum einen an der Schwere der Anklage und der klaren Beweislage, aber auch an der Tatsache, dass der Prozess bereits 1948 und damit vergleichsweise früh geführt wurde. Tatsächlich hatte der Zeitpunkt des Urteils einen entscheidenden Ein- fluss auf die Strafe: So lässt sich nach- weisen, dass die Schuldsprüche in den nachfolgenden Jahren zunehmend milder ausfielen. Wenngleich die letzten Prozesse gegen Zahnärzte erst Ende der 1960er-Jahre geführt wurden, sind für die Zeit nach 1948 kaum noch Todes- strafen festzustellen. 27 Ohnehin wurde in der Bundesrepublik die Todesstrafe 1949 abgeschafft. Ein Beispiel für die beschriebene Tendenz zu milden Urtei- len bietet der unlängst in dieser Reihe besprochene Zahnarzt Helmut Kunz: Er wurde in der Bundesrepublik erst 1957 wegen der Verstrickung in die Ermordung der Goebbels-Kinder juris- tisch belangt. Das Verfahren wurde jedoch nur wenige Wochen nach Er- öffnung der Hauptverhandlung vom Landgericht Münster ausgesetzt. 28 Sonntag gehörte dementsprechend zu den letzten Todeskandidaten unter den Zahnärzten. Trotz seiner nachweislichen Brutalität und seines dramatischen Lebensendes ist seine Biografie bis heute weniger bekannt als diejenige anderer zahnärztlicher Kriegsverbrecher wie etwa Kunz oder Hermann Pook. 29 Den- noch liefert gerade Sonntag ein Parade- beispiel für die weithin fehlende Selbstkritik der Angeklagten: Bis zum Schluss betrachtete er sich als Opfer einer Verleumdungskampagne – und projizierte seine Schuld auf die britischen Besatzungsbehörden, die er in einem Brief an seine Frau Gerda vom 8. Juni 1948 auch für das Elend der Nach- kriegszeit verantwortlich machte: „Da reißen die Burschen das Maul auf u. suchen Verbrecher gegen die Mensch- lichkeit u. auf der anderen Seite lassen sie tausende von unschuldigen Frauen u. Kindern zu Grunde gehen! Man hat keine Worte.“ 30 \ 23 Stoll, 2002, 932f.; 24 Klee, 2003, 291; 25 Schäfer (2002), 144f.; 26 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; 27 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; 28 Groß, 2020; Heit/Westemeier/Groß/Schmidt, 2019; 29 Schmidt/Groß/Westemeier, 2018; Groß/Krischel, 2020; Groß, 2020; 30 Stoll, 2002, 937 ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Jenny Cohen – Zahnärztin in Westfalen, Emigration, Gesundheitspolitikerin in der DDR Matthis Krischel, Thorsten Halling Nach einer wechselvollen Emigrationsgeschichte, die sie als verfolgte jüdische Zahnärztin über die Niederlande, die Sowjetunion und Schweden führte, machte sich Jenny Cohen (1905–1976) in der DDR durch die Neuorganisation der Jugendzahnpflege und als Gesundheitspolitikerin einen Namen. J enny Cohen, geborene Philips, wurde in Wolbeck/Westfalen als Tochter eines Metzgers und Vieh- händlers geboren. Nach dem Abitur in Münster studierte sie dort und in Würzburg Zahnmedizin, wurde 1929 approbiert und 1930 zur Dr. med. dent. promoviert. Nach mehreren Sta- tionen als Assistentin und Vertreterin eröffnete sie im Sommer 1932 unweit ihres Geburtsortes in Herbern/West- falen eine eigene Praxis, die sie aber bald nach Beginn der „Boykotte“ gegen jüdische Geschäfte und Praxen aufgeben musste. In dieser Zeit hatte 56 | GESELLSCHAFT
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=