Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09
zm 110, Nr. 9, 1.5.2020, (923) sie sich vor allem praktisch der Kinder- zahnheilkunde gewidmet. Sie emigrierte bereits Mitte 1933 in die Niederlande, wo sie als Hausangestellte ihren Unter- halt verdiente. Dort kam sie in Kontakt mit deutschen Kommunisten, zu denen auch Albert Cohen gehörte, den sie 1935 heiratete. 1 IM EXIL VERDIENTE SIE IHR GELD ALS HAUSANGESTELLTE In einem autobiografischen Kapitel erinnert sich Cohen an „Emigrations- erlebnisse und Teilnahme am Aufbau eines neuen Gesundheitswesens“ 2 in der DDR. Bereits in der Studienzeit in der Weimarer Republik hätte es an der Universität Münster Antisemitismus und Deutschnationalismus gegeben. Gleichzeitig erinnert Cohen sich an Unterstützer, wie einen Oberarzt der Zahnklinik an der Universität Münster, der sie nach dem Beginn der anti- semitischen „Boykotte“ 1933 anrief, um sich „nach ihrem Befinden zu er- kundigen“. Dazu bemerkt Cohen: „Das war übrigens nicht der einzige Anruf solcher Art. Das gab mir auch in der damaligen depremierten Verfassung die Gewißheit, daß viele Menschen an- ständig geblieben waren und daß es den Nazis nicht gelungen war, das ge- samte deutsche Volk irrezuführen.“ 3 Cohen berichtet auch während der Assistenzzeit einmal aus antisemiti- schen Gründen von einem Zahnarzt entlassen worden zu sein, der Mitglied der paramilitärischen, deutschnationa- len Organisation Stahlhelm gewesen war. Ursprünglich als Veteranenorgani- sation des Ersten Weltkriegs gegründet hatte der Stahlhelm bereits 1924 jüdi- sche Mitglieder ausgeschlossen. 4 1936 ermöglichte die jüdische Flucht- hilfeorganisation OSE den Cohens über die Schweiz und Österreich den Weg in die Sowjetunion, wo Jenny als Zahn- ärztin in einer Moskauer Poliklinik ar- beitete. Wie viele deutsche Immigranten wurden das Ehepaar Cohen allerdings schon 1937 mit dem Vorwurf der Spio- nage wieder ausgewiesen. Anschließend fand die Familie in Schweden Auf- nahme. Auch dort arbeitete Jenny Cohen zunächst in Stockholm als Hausangestellte und konnte erst ab 1942 im nordschwedischen Färila als Distriktzahnärztin für Volks- und Schul- zahnpflege wirken. 1946 kehrte Albert Cohen in die Sowjetische Besatzungs- zone zurück, Jenny folgte ein Jahr darauf mit den beiden gemeinsamen Kindern. Rückblickend beschreibt Cohen ihre Emigrationsgeschichte als eine Phase der permanenten Bedrohung: „Gerin- ger Lohn, Unsicherheit, ob man einen anderen, wenn auch noch so beschei- denen Arbeitsplatz findet, Ungewiß- heit, ob die Aufenthaltserlaubnis ver- längert wird, und die ständige Gefahr, in ein anderes Land abgeschoben zu werden, im schlimmsten Fall sogar nach Deutschland.“ 5 Personen wie die Cohens, die während der Zeit des Nationalsozialismus emi- griert waren, wurden bis Ende der 1940er-Jahre gezielt in Führungs- positionen in der SBZ/DDR eingesetzt. Neben Jenny Cohen arbeiteten in der Zentralverwaltung für das Gesund- heitswesen sechs weitere Remigranten in leitenden Stellungen. 6 Ihr Ehemann Albert Cohen wirkte als Ingenieur in der Wirtschaftsplanung und wurde 1950 Leiter der Hauptabteilung Wirtschaftliche Zusammenarbeit. 7 Im Gegensatz zu Jenny wurde er aber Ziel der „Säuberungswellen“, die Anfang der 1950er-Jahre von der Zentralen Parteikontrollkommission der SED aus- gingen. Diese entschied, er sei ein „Intellektueller, dem seine bürgerliche Herkunft noch stark anhaftet“ und da- mit „im Hinblick auf seine Herkunft, Entwicklung und familiäre Bindung nicht geeignet“ für eine politische Füh- rungsrolle in der DDR. 8 Mit familiärer Bindung kann hier gemeint sein, dass Albert Cohens Vater zeitweise in Israel gelebt hatte. IN DER DDR ALS REFERENTIN FÜR JUGENDZAHNPFLEGE Jenny Cohens Karriere in der DDR ver- lief erfolgreicher. 9 Sie war ab 1947 in der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen als Referentin für Jugendzahnpflege, ab 1949 im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR tätig. Zu ihren ersten Aufgaben dort gehörte die Mitarbeit an einem Gesetz zur Herstellung eines Einheits- standes von Zahnärzten und Dentis- ten. In Sachsen hatte es bereits 1946 eine Einigung über die Bildung eines akademischen Einheitsstandes ge- geben. Ein Jahr darauf kamen Vertreter der Zahnärzteschaft, der Dentisten und der zahnärztlichen Hochschullehrer in der SBZ in einem von Carl Coutelle, dem Leiter der Abteilung Medizinal- berufe, und Jenny Cohen moderierten Gespräch zusammen. Nach Zeitzeugen sei es „vornehmlich dem Verhandlungs- geschick von Frau Cohen zu danken [...], dass es zwischen den Dentisten und Zahnärzten zur einvernehmlichen Verständigung kam.“ 10 Nach der Aus- gestaltung der Überleitung der Dentis- ten in den akademischen Stand der Zahnärzte und der Zustimmung der Sowjetischen Militäradministration wurde im März 1949 eine neue Appro- bationsordnung für Zahnärzte in der DDR erlassen, die keine Dentisten mehr vorsah. 1 Albrecht/Hartwig, 1982; 2 Cohen, 1982; 3 Ebenda, 117; 4 Rosenthal, 2007; 5 Cohen, 1982, 120; 6 Schleiermacher, 2009; 7 Scholz, 2000, 147; 8 Zitiert nach Scholz, 2000, 148; 9 Voigt/Voigt, 1981, unveröff. Manuskr.; 10 Künzel, 2013; DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. | 57
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