Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 110, Nr. 9, 1.5.2020, (942) Von Interesse war außerdem das Inan- spruchnahmeverhalten von Parodontal- behandlungen in Abhängigkeit von der Inzidenz der betrachteten Erkran- kungen. Hier zeigt sich bei Versicherten mit Erstdiagnose eines Diabetes oder einer KHK – nicht für Schlaganfall – in den acht Quartalen nach dem Inzidenzquartal eine circa um das 1,5-fach höhere Inanspruchnahme. Das Studiendesign lässt hier keine Aus- sagen zur Kausalität zu, die höhere Behandlungsrate könnte aber ein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Parodontitis und Diabetes beziehungsweise KHK sein. Möglicher- weise ist die Zunahme auch auf eine entsprechende Information der Patienten durch ihre behandelnden Ärzte zurückzuführen. Weitere Auf- schlüsse über die kausalen Zusammen- hänge zwischen Parodontalerkran- kungen und weiteren chronischen Erkrankungen werden durch die NAKO-Gesundheitsstudie erwartet [NAKO Gesundheitsstudie, 2017]. STÄRKEN UND LIMITATIONEN Die Studie beruht auf einem großen Datensatz von circa sechs Millionen Versicherten, vor allem von Betriebs- krankenkassen, so dass die Ergebnisse nur mit Vorsicht verallgemeinert werden können. Prävalenzvergleiche beispielsweise für Diabetes (hier 2016: 9,6 Prozent) zeigen jedoch eine gute Übereinstimmung mit bundesweiten Daten [Goffrier et al., 2017]. Die auf Selbstangaben beruhende Prävalenz- schätzung für KHK liegt in der Studie GEDA 2014/2015-EHIS mit 4,8 Prozent [Busch et al., 2017a] etwas niedriger als die aufgrund ärztlich dokumentierter Diagnosen geschätzte Prävalenz von 6,2 Prozent. Als prävalente Schlag- anfall-Patienten wurden in unserer Studie Patienten mit einem akuten Ereignis (Krankenhausentlassungs- diagnose) einbezogen. Dieser Anteil liegt deshalb aus methodischen Grün- den deutlich unter der 12-Monats- Prävalenz der Studie GEDA 2014/15- EHIS mit 1,6 Prozent [Busch et al., 2017b]. Vorteile der Routinedaten be- stehen in der Beobachtung von langen Zeitreihen, im Zugang zu Informatio- nen über alle Versicherten unabhängig von deren Gesundheitszustand, in der Vollständigkeit der Daten (kein drop out) und in der fehlenden Verzerrung durch Erinnerungslücken oder den Einfluss des Interviewers [Schubert et al., 2008]. Die vorliegenden Ergebnisse der GKV- Routinedaten basieren auf deskriptiven Auswertungen und dienen als eine erste Übersicht über die zahnmedizinische Versorgungssituation von Patienten mit Diabetes, KHK und Schlaganfall. Alter und Geschlecht wurden bei der Paarlingsbildung als mögliche Confounder berücksichtigt. Des Weite- ren basieren die Analysen von Studien- population 1 auf einem Querschnitt- design und es können keine kausalen Zusammenhänge abgeleitet werden. Auch sind der Schweregrad oder die Dauer der Erkrankung nicht be- kannt. Bei der Studienpopulation 2 mussten alle Versicherten mindestens 17 Quartale beobachtbar sein, so dass hier keine Aussagen zu Kassen- wechslern (eine eher gesündere Popu- lation) oder Versterbenden (eher multi- morbid, höherer Schweregrad, älter) möglich sind. AUSBLICK Die Studie spiegelt die Versorgungs- situation von Versicherten mit ausge- wählten chronischen Erkrankungen wider. Dabei werfen die Ergebnisse jedoch neue Fragen auf: Weist der auf- gedeckte Unterschied in der Inan- spruchnahme von Zahnärzten auf eine zu geringe Sensibilisierung für das Risiko von Zahnerkrankungen bei Ver- sicherten mit chronischer Erkrankung hin? Würden größere Unterschiede zwischen Erkrankten und Kontrollen sichtbar werden, wenn die absolute Anzahl an Zahnarztbesuchen betrach- tet wird? Des Weiteren würde man nach Angaben aus der Literatur – Paro- dontitis als stille Volkskrankheit – einen höheren Anteil an Parodontal- behandlungen vor allem unter den Versicherten mit chronischer Erkran- kung, erwarten. Wird hierauf, zum Beispiel durch Hausärzte, zu wenig geachtet und Patienten folglich zu selten ein Zahnarztbesuch empfohlen? Welche – auch finanziellen – Barrieren bestehen aufseiten der Versicherten hinsichtlich der Inanspruchnahme einer Parodontalbehandlung? Diese Punkte sollten zukünftig weiter unter- sucht werden. Für die Versorgung för- derlich wären sicherlich gut hand- habbare Screening-Instrumente, die im hausärztlichen und im zahnärztlichen Setting eingesetzt werden können. Hierzu wird das Dent@Prevent-Projekt einen Beitrag leisten [Listl, 2017]. So könnte beispielsweise das im Rahmen des Dent@Prevent-Projekts entwickelte interdisziplinäre Entscheidungsunter- stützungssystem in die derzeit erarbei- tete S2k-Leitlinie „Parodontitis und Diabetes“ als Praxistool aufgenommen werden [AWMF, 2020]. Des Weiteren ist eine erste Pilotstudie eines Diabetes- Screenings in Zahnarztpraxen ermu- tigend [Ziebolz et al., 2019]. Auch in anderen Ländern, wie den Niederlan- den und den Vereinigten Staaten, wird hieran geforscht [Ahdi et al., 2015; Estrich et al., 2019; Verhulst et al., 2019b]. \ Die Autoren danken dem InGef – Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH und der SpectrumK GmbH für die Bereitstellung der GKV-Routine- daten. Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Projekt wurde mit Mitteln des Innovationsausschusses beim G-BA unter dem Förderkennzeichen 01VSF16052 gefördert. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. DR. RER. SOC. INGRID SCHUBERT PMV forschungsgruppe, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Universität zu Köln Herderstr. 52, 50931 Köln 76 | ZAHNMEDIZIN

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