Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (996) Was gibt es bei der Behandlung älterer Patienten zu beachten? Prof. Dr. Ina Nitschke : Wichtig ist zunächst, das individuelle Risiko des Patienten herauszufinden und ganz bewusst abzuwägen. Das gelingt am besten über einen aktualisierten Anamnesebogen. Auch wenn man einen Patienten schon jahrelang kennt, ist es jetzt wichtig, ein Update zum Gesundheitszustand einzuholen und hinsichtlich COVID-19 zu vervollstän- digen. Offiziell zählen alle Menschen über 65 Jahre zur Risikogruppe. Aber nicht jeder ältere Mensch ist gleich stark vorbelastet. Manche sind fit. Bei anderen ist ein hoher Blutdruck auch nicht gleich ein Kriterium, ihn nicht zahnärztlich zu behandeln. Ich rate also zur Betrachtung des Einzelfalls. Es gibt derzeit noch viele Unklarheiten, was das neuartige Coronavirus betrifft. Bei vielen verläuft es harmlos oder sogar unbemerkt, andere tötet es qual- voll durch den Erstickungstod. Noch mal: Jeder Mensch ist anders, nicht jeder Ü65 ist so vorerkrankt, dass er keine Behandlung erhalten kann. Wie gefährdet man ist, hängt nicht nur vom Alter ab. Deswegen sollte auch der Patient mit in die Abwägung ein- bezogen werden. Kein Zahnarzt sollte sich zurzeit auf die lange Bekannt- schaft und die Angaben aus alten Anamnesebögen verlassen. Das kann trügerisch sein. Veranschlagen Sie etwas mehr Zeit für die Anamnese und partizipative Therapieentscheidung ei- nes älteren Patienten. Eine Behandlung aufzuschieben kann ja auch gefährlich sein. Ja, das ist richtig. Ein Risiko birgt sich hier in der Zeit, die verstreicht. Beim Abwägen muss beides in die Waag- schale gelegt werden: Was könnte sich entwickeln, wenn ein Eingriff oder eine Prophylaxe-Behandlung noch um einige Monate aufgeschoben wird? Wie schlimm wird dann die Karies oder eine Gingivitis? Ist es nicht akut, müssen ja auch zunächst einmal die Schmerzen behandelt werden. Man kann aber auch die Methoden anpassen, was ältere Patienten sehr schätzen, und zum Beispiel vom Ultra- schallgerät, das Aerosole erzeugt und von dem derzeit abgeraten wird, auf Handgeräte umsteigen. Außerdem wird das Spülen mit einer antiviralen Lösung empfohlen. Wichtig ist, gemeinsam abzuwägen zwischen den Nachteilen, wenn eine Behandlung später erfolgt und Erreich- tes in der Prävention infrage gestellt wird, und dem Vorteil, dem ängstli- chen Gefühl eines Patienten Raum zu geben. Eine intensive Aufklärung wird notwendig sein, um Patienten auch die Vorteile einer zeitnahen Behand- lung nahezubringen. Was empfehlen Sie für das Praxismanagement? Ausdünnen! Der Betrieb sollte in dieser Krisenzeit etwas ausgedünnt werden, um zu gewährleisten, dass sich die Pa- tienten möglichst nicht begegnen. Mit einem guten Zeit- und Raum-Manage- ment können die Älteren am besten direkt ins Behandlungszimmer geführt werden. Dafür darf man ihnen höflich vermitteln, dass sie bitte nicht zu früh zum Termin erscheinen. Ältere Patien- ten pflegen häufig die Tugend, zu früh zu kommen. Pünktlich heißt in diesem Fall auch: Nicht zu früh! Eine gute Organisation ist eine gute Bestellpraxis! Keiner drängelt. Ein weiteres Beispiel für das angepasste Praxismanagement ist die Einrichtung einer speziellen Sprechstunde für so- wohl Risiko- als auch für Infektionspa- tienten. Hier kann der Workflow ange- passt werden und es kommt nicht zur Durchmischung von Patienten. Wo verbergen sich Schwachstellen? Ich schätze, die Schwachstelle kann irgendwann die Routine sein. Wenn wir uns alle an die neuen Maßnahmen gewöhnt haben, werden wir vielleicht wieder nachlässiger damit im Alltag. Das ist normal. Deshalb muss man sich immer wieder selbst erinnern und die eigene Routine reflektieren: Wird der eigene Umgang noch all den hohen Ansprüchen gerecht? Ich habe gute Erfahrungen mit einer kurzen Teambesprechung einmal pro Woche gemacht. Hier kann abgeglichen wer- den, ob alle Vorkehrungen, die Mitte März eingeführt wurden, auch Mitte Mai noch berücksichtigt werden (müs- sen). Instruieren Sie ihre HelferInnen immer wieder für den Umgang mit Risikopatienten, um Nachlässigkeit durch Routine vorzubeugen. Ständige Selbstkontrolle ist das Stichwort. PROF. DR. INA NITSCHKE Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ) Foto: privat „Ältere Patienten pflegen häufig die Tugend, zu früh zu kommen. Pünktlich heißt in diesem Fall auch: Nicht zu früh!“ Prof. Dr. Ina Nitschke INTERVIEW MIT PROF. DR. INA NITSCHKE Ü65 ist kein pauschales Ausschlusskriterium Patienten ab 65 Jahren zählen zur Risikogruppe – in Corona-Zeiten ist für sie einmal mehr Vorsicht angebracht. Warum eine sorgfältige Einzelfallbetrachtung wichtig ist, erläutert Prof. Dr. Ina Nitschke, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ). 34 | PRAXIS

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