Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1000) mehr verdient hat, so ist man hier der Meinung, hatte genug Zeit, Rücklagen zu bilden. Vielen der angestellten Zahnärzte ergeht es ähnlich wie den Praxisinhabern: hohe Kredite für Wohnungen oder Häuser und keine Aussicht darauf, wann sie wieder in den Zahn- arztpraxen arbeiten können. Angesichts dieser Aussichten werden wohl einige der NHS-Zahnarztpraxen auf der Strecke bleiben und Associates vergeblich versuchen, eine neue Stelle zu finden. 800.000 KLEINE FIRMEN WERDEN SCHLIEßEN Da ohnehin viele Menschen freiberuflich tätig sind und oft von der Hand in den Mund leben, jetzt ihre Aufträge ver- loren haben, waren bis Anfang April bereits etwa eine Mil- lion Anträge auf staatliche Unterstützung, ähnlich dem deutschen Hartz IV, eingegangen. Insgesamt rechnet man in Großbritannien damit, dass etwa 800.000 kleine Unter- nehmen schließen werden, unter anderem auch deswegen, da viele, die einen Corona-Geschäftsunterbrechungskredit bei ihrer Hausbank beantragen wollen, entweder gar nicht erst telefonisch durchkommen oder ihnen mitgeteilt wird, dass sie nicht anspruchsberechtigt sind. Der Versuch einiger Geschäftsleute, sich bei privaten Geld- verleihern Geld zu besorgen, endete oft mit Angeboten von Zinsen um die 30 Prozent. Neben einer großen Kaufhaus- und einer Restaurantkette hat es bereits etliche mittelgroße Unternehmen in den Abgrund gerissen, British Airways plant 12.000 Mitarbeiter zu entlassen, der Triebwerkshersteller Rolls-Royce 8.000. Es gibt Familien, die aufgrund des Job- verlusts mit 30 Pfund Essensbudget pro Woche auskommen müssen und die karitativen Essensausgaben verzeichnen einen Nachfrageanstieg um 20 Prozent. Wenn sich die Queen an die Nation wendet, ist es ernst. Noch dazu, wenn der Premierminister am gleichen Tag ins Krankenhaus gebracht wird. Allerdings gab es nicht wenige Engländer, die meinten: „Work gets tricky? Pull a sicky!“ (Wenn die Arbeit kompliziert wird, mach‘ einfach blau). ZWEI MILITÄRKRANKENHÄUSER SAHEN NICHT EINEN EINZIGEN PATIENTEN Der Unmut über fehlende Schutzausrüstung nahm jeden Tag genauso zu, wie der Druck in vielen privaten Haus- halten anstieg. Häusliche Gewalt ist in Großbritannien ein wahrscheinlich noch größeres Problem als in Deutschland. Einem Familienvater brannten die Sicherungen durch und er erstach seine ein- und dreijährigen Kinder. Und wer denkt, die Blockwartmentalität gebe es nur in Deutschland, der irrt. In England allein erhielt die Polizei etwa 200.000 Anrufe, in denen irgendjemand angezeigt wurde, weil er oder sie die Ausgangsregeln gebrochen hatte. Angesichts der Ereignisse wird einiges im Königreich aufzu- arbeiten sein und es stellen sich, wie auch in Deutschland, Fragen. Hier in England wurden beispielsweise zwei Militär- krankenhäuser in großen Messe- und Kongresszentren ein- gerichtet, eins in London, das andere in Birmingham. Beide Krankenhäuser haben nicht einen einzigen Patienten gese- hen, trotz der hohen Fallzahlen. Die Todesrate der Patienten, die mit einer schweren COVID- 19-Erkrankung in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, liegt bei 35 bis 40 Prozent, was der von Ebola entspricht. Nach einer Statistik des Büros für Nationale Statistik ver- zeichnen die ärmsten Regionen Englands und Wales 55 Todesfälle auf 100.000 Einwohner, die reichsten Regionen nur 25. Gleichzeitig kamen täglich etwa 15.000 Passagiere auf den Flughäfen des Landes an. Bis Ende April gab es für Einreisende keine Gesundheits-Checks. Erst ab Mai sollen sich Einreisende in eine 14-tägige Quarantäne begeben. Wie häufig gibt es Licht am Ende des Tunnels und nicht immer sind es die Lichter der entgegenkommenden Loko- motive. Captain Tom Moore feierte am 30. April seinen 100. Geburtstag, wurde zum Oberst befördert und eine Flugstaffel grüßte ihn mit einem Überflug. Die Anzahl der Corona- Tests konnte in England indessen auf fast 100.000 pro Tag gesteigert werden. Boris Johnson kehrte in die No. 10 Downing Street zurück und wurde in den Medien bejubelt. Aber letztlich ist es doch wie immer: Es gibt diejenigen, die etwas für ihr Land und die Menschen tun, und dann gibt es diejenigen, die damit beschäftigt sind, ihren nächsten Wahlsieg zu organisieren. DIE QUEEN FINDET KLARE WORTE ZU DER POLITIK DES PREMIERS In seiner ersten Ansprache verkündete Johnson, die Nation zurück in die „neue Normalität“ zu führen. Schon komisch, die Parallelen in den Worten der Politiker in Deutschland und Großbritannien. Zukünftig soll es eine Mundschutz- pflicht in der Öffentlichkeit geben, die Schulen sollen wieder öffnen und die Geschäfte sowie das öffentliche Leben nach und nach wieder in Gang gebracht werden. Johnson: „Bisher haben wir gewonnen, in der ersten und wichtigsten Aufgabe, die wir uns als Nation gegeben haben – die Tragödie zu vermeiden, die andere Teile der Welt verschlungen hat, denn zu keiner Zeit war unser NHS überfordert.“ Nun ja, vielleicht gibt es doch einen Unterschied zwischen Deutschland und Großbritannien. Der Moderator eines Morgenmagazins wählte klare Worte und bezeichnete Johnson angesichts seiner Fehlleistungen in der Krise als „breathless bulls**tter“. \ SVEN THIELE Zahnarzt und Autor Thiele praktizierte mehrere Jahre in London und war Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er für www.foreigndentist.wordpress.com . Foto: privat 38 | POLITIK

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