Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1020) DISKUSSION Frakturen des Unterkiefers machen 65 bis 70 Prozent aller Gesichtsschädel- frakturen aus, wobei am häufigsten Paramedian- beziehungsweise Median- frakturen mit 25 bis 30 Prozent und Gelenkfortsatzfrakturen mit 25 bis 30 Prozent auftreten. Weitere typische Frakturlokalisationen sind der Kiefer- winkel, die Prämolaren-, die Eckzahn- und die Molarenregion sowie im Bereich des Ramus und diakapitulär innerhalb des Kiefergelenks. Charakte- ristisch treten Mehrfachbrüche in be- stimmten Kombinationen wie Median und im Bereich eines oder beider Gelenkfortsätze auf. Die häufigsten Ursachen für Unterkieferfrakturen im Allgemeinen stellen Verkehrsunfälle, Rohheitsdelikte sowie in den vergan- genen Jahren vermehrt Stürze dar [Schneider und Kämmerer et al., 2015; Goedecke et al., 2019]. Eine Collumfraktur präsentiert sich kli- nisch häufig mit eingeschränkter Mund- öffnung und einer Deviation auf die Seite der Fraktur. Durch die Verkürzung der Abstützung auf der betroffenen Seite können ein neu aufgetretener Früh- kontakt im Molarenbereich ipsilateral sowie ein seitoffener Biss kontralateral resultieren. Bei bilateraler Fraktur der Colla – wie im beschriebenen Fall – ist nicht selten ein frontoffener Biss mit Rückverlagerung des Unterkiefers zu beobachten. Bei der klinischen Untersuchung kann es durch leichten Druck auf das Kinn, durch Palpation des Gelenkanteils oder auch durch Austasten des äußeren Gehörgangs zu Schmerzen kommen [Kleinheinz et al., 2009]. Die notfall- mäßige Erstversorgung kann mittels interfragmentärer Ruhigstellung und mandibulo-maxillärer Fixierung erfol- gen (syn.: intermaxilläre Fixierung, IMF) [Bacher et al., 2011]. Während die interfragmentäre Ruhig- stellung imWesentlichen durch Draht- ligaturen erreicht wird, gelten bei der Collumfraktur zur intermaxillären Fixierung IMF-Schrauben den Sprossen- schienen als überlegen. Insbesondere ist das Verletzungsrisiko für den Chi- rurgen geringer, aber auch die benötigte Zeit für die Anbringung bei Verwendung von Schrauben kürzer. Bezüglich der Stabilität der Versorgung und dem Er- gebnis der Okklusion zeigen sich keine Unterschiede [van den Bergh et al., 2015; Qureshi et al., 2016]. Die Therapie der Fraktur des Collum mandibulae kann grundsätzlich geschlossen-konservativ oder offen- chirurgisch erfolgen. Welche dieser Strategien zur Behandlung von Collumfrakturen überlegen ist, wird seit Langem kontrovers diskutiert. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2008 kam anhand der damals herrschenden Datenlage zu keinem Ergebnis bezüg- lich der zu favorisierenden Therapie [Nussbaum et al., 2008], wobei sich zuletzt ein Trend hin zur operativen Versorgung abzeichnete [Neff et al., 2014], insbesondere bei Dislokationen mit einem Winkel zwischen 10 und 45°, mit einer Verkürzung ab 2 mm [Schneider et al., 2008] oder bilateralen Collumfrakturen [Gupta et al., 2012; Singh et al., 2012]. Begründet wird dies mit geringeren Schmerzen, einer besser eingestellten Okklusion und einem besseren funktionellen Ergebnis [Berner et al., 2015]. Eine nicht oder schlecht reponierte Fraktur führt auch zu ästhetischen Einbußen wie Gesichtsasymmetrien [Ellis und Throckmorton, 2000]. Hier bietet ein extraoraler Zugang einen adäquaten Überblick über die Fraktur und somit über das Ergebnis der Repo- sition und Osteosynthese, insbesondere bei hoch gelegenen Frakturen sowie nach medial luxiertem proximalem Frakturanteil [Colletti et al., 2014]. Weitere Komplikationen sowohl nach geschlossen-konservativer als auch nach offen-chirurgischer Therapie um- fassen neben Gesichtsasymmetrie, Kinn- verlagerung, eingeschränkter Mobilität des Unterkiefers, craniomandibulärer Dysfunktion, Ankylose auch chronische Schmerzen sowie – wie bei unserer Patientin – eine persistierende Mal- okklusion [Forouzanfar et al., 2013]. Das Auftreten von Malokklusionen wie einem frontoffen Biss wird durch die verkürzte Abstützung (Frakturdisloka- tion) [Chen et al., 2011] sowie durch den Zug der suprahyoidalen Muskula- tur auf den Unterkiefer erklärt [Becking et al., 1998] und tritt bei bis zu 24 Prozent der konservativ-geschlossen [Forouzanfar et al., 2013; Rozeboom et al., 2017] und nur bei etwa 10 Prozent der chirurgisch-offen [Chen et al., 2011] versorgten Collumfrakturen auf. Insgesamt zeichnet sich hier also das offene Vorgehen als die Methode mit einem für diesen Parameter besseren Ergebnis ab [Al-Moraissi und Ellis, 2015]. Die Korrektur in Malokklusion verheilter Collumfrakturen kann je nach Ausmaß durch mono- oder durch bimaxilläre Umstellungsosteotomien – mit den entsprechenden Komplika- tionsraten – erfolgen [Becking et al., 1998]. Zu bedenken ist dabei auch die schlechtere Lebensqualität bis zur endgültigen Korrektur der Fehlstellung [Palomares et al., 2016]. Abb. 5: Postoperatives DVT: in der koronaren Schicht sichtbares Ergebnis nach Reposition und Osteosynthese mit Darstellung vor allem des linken Gelenkkopfs PD DR. DR. PEER W. KÄMMERER, MA, FEBOMFS Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie der Universitätsmedizin Mainz Augustusplatz 2, 55131 Mainz peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de Foto: privat 58 | ZAHNMEDIZIN

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