Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1031) 12. Februar 1988 eine akademische Gedenkstunde aus. Gleich fünf Professo- ren hielten eine Ansprache, flankiert von einem Streichquartett. 10 Sieben Wissenschaftler konnten sich an Ritters Lehrstuhl in Heidelberg habilitie- ren, darunter die späteren Ordinarien Theodor Kirsch, Josef Köhler, Kurt Kristen, Rudolf Schwindling und Arnulf Stahl. 11 Ritters fachliche Schwerpunkte waren die Vererbungslehre, die Kiefer- orthopädie, die zahnärztliche Chirurgie und die Kieferchirurgie einschließlich der „Spaltoperationen“. 12 Zu seinen bekanntesten Publikationen zählten Arbeiten zu Zahn- und Gebiss- anomalien 13 , zur „Erbgesundheits- lehre“ 14 , zu Knochentransplantaten 15 , zum Kiefergelenk 16 und zur Neuralen Dystrophie und deren Auswirkungen auf die Zahnmedizin 17 . „DEREN FORTPFLANZUNG MUSS VERHINDERT WERDEN“ Doch zurück zur Zeit des „Dritten Reichs“: Ritter schloss sich nach 1933 nicht nur zahlreichen NS-Organisatio- nen an, sondern trat in Veröffentlichun- gen auch als Verfechter der national- sozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ auf: So publizierte er 1939 gemeinsam mit dem Rassenhygieniker Wolfgang Lehmann eine Arbeit, die sich der „Stellung der Lippen-Kiefer-Gaumen- spaltenträger“ im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) widmete. Besagtes Gesetz war 1933 erlassen worden und behandelte die „Unfruchtbarmachung“ vermeintlich „Erbkranker“ – „Spaltenträger“ waren nicht explizit aufgeführt. 18 Doch Ritter befürwortete in seinem Text die Zwangssterilisation „bei mutmaß- licher Erbbedingtheit“ mit Ausnahme der reinen „Hasenspaltenträger“. So schreibt er: 19 „Uns erwächst manchmal die schwierige Aufgabe, den Kranken oder seine Angehörigen von der Not- wendigkeit der gesetzlichen Maßnahmen zu überzeugen, die häufig als hart emp- funden werden. [...] Auch bei uns selbst lassen Beziehungen, die wir [...] zum Kranken oder seinen Angehörigen geknüpft haben, tiefes Mitleid zu den Schicksalsgeprüften aufkommen, das uns aber nicht von der Pflicht ent- bindet, ihn an der Fortpflanzung zu hindern, wenn erwiesen ist, daß es sich um ein Erbmerkmal seiner Bluts- verwandtschaft handelt.“ Ebenda heißt es auch: 20 „Leider wird man nur bei einem geringen Teil der Belasteten oder ihren Angehörigen Verständnis für die Verhinderung der Fortpflanzung voraussetzen dürfen.“ Schon in früheren Arbeiten hatte er sich hinter die NS-Rassen- und -„Erbgesund- heitslehre“ gestellt und deren Anwendung auf die Zahnheilkunde gefordert. So führte er 1937 aus: 21 „Die stattgefundene Konstitutions- und Rassenmischung, sowie die mit ihr verbundene Bastardi- sierung der Menschheit erschwert [...] die Erbforschung sehr, da man ja nie weiß, welcher Genotyp sich hinter dem sich uns darbietenden Phänotyp des Gebisses verbirgt.“ Und im selben Beitrag: 22 „Ich habe das Ziel [...] haupt- sächlich darin gesehen, das noch im all- gemeinen in der Orthodontie übliche mechanische Denken vom Phänotypus hinweg zum Genotypus zu lenken. Die Erfolge der Vererbungswissenschaft haben in die Zahnheilkunde noch zu wenig Eingang gefunden.“ Auch die Forschungen von Josef Men- gele werden von Lehmann und Ritter (1940) ausdrücklich gewürdigt: 23 „Die sehr sorgfältige Arbeit von Mengele [...] bedeutet aber einen Fortschritt in der Erforschung der Erbpathologie der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, weil auf die Bedeutung und die Rolle der Mikro- manifestation des Merkmals hingewie- sen wird. Dadurch wird auch ein neues Licht auf die Erbgangsverhältnisse geworfen [...].“ Doch wie positionierten sich die übri- gen Fachvertreter der Kieferchirurgie gegenüber der Zwangssterilisation von Spaltträgern? Tatsächlich stellten sich führende Professoren jener Zeit demonstrativ vor ihre Patienten und kritisierten Überlegungen, das GzVeN auf Spaltträger anzuwenden. Ein pro- minentes Beispiel ist Georg Axhausen, der bis 1939 die Kieferklinik an der Charité leitete. 24 Er lehnte Zwangs- sterilisationen ebenso nachdrücklich ab wie Wolfgang Rosenthal, der bis 1937 als außerordentlicher Professor wirkte, bevor er als „Vierteljude“ einge- stuft wurde, die Hochschule verlassen musste und eine Privatklinik gründete. 25 Auch Franz Ernst – Professor für Kiefer- chirurgie in Berlin – lehnte Zwangs- sterilisationen ab. 26 Bekanntester Befür- worter der Sterilisierungen war neben Ritter Professor Martin Waßmund 27 , der die Kieferklinik des Rudolf-Virchow- Krankenhauses in Berlin leitete und 1941 – zwei Jahre vor Ritter – zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden war. 10 UA Heidelberg, Stahl, 1988 (Deckblätter); Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 288; 11 Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 290–292; 12 Groß/ Westemeier/Schmidt, 2018b, 286, 299–305; 13 Ritter, 1937; Ritter, 1943; 14 Lehmann/Ritter, 1939; Lehmann/Ritter, 1940; Euler/Ritter, 1940; 15 Ritter, 1948a, 432–436; 16 Ritter, 1948b, 149–153; 17 Ritter, 1953, 1290–1296; 18 Boehm, 1939; 19 Lehmann/Ritter, 1939, 8f.; 20 Lehmann/Ritter, 1939, 8f.; 21 Ritter, 1937, 2; 22 Ritter, 1937, 72; 23 Lehmann/Ritter, 1940, 570; 24 Groß, 2018a; Thieme, 2018, 177–179; 25 Groß, 2018b; Thieme, 2018, 176, 179; 26 Thieme, 2018, 176f.; 27 Thieme, 2018, 179–181; Groß, 2018d, 166, 175 PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat TÄTER UND VERFOLGTE Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 11/2020 folgen Wilhelm Gröschel und Engelbert Decker, in der zm 12/2020 Ernst Weinmann und Otto Berger. | 69

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