Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1032) Ritter hätte demnach die Möglichkeit gehabt, sich hinter den Sterilisations- gegnern einzureihen; ohnehin bestand keinerlei Notwendigkeit, zu diesem heiklen Thema Stellung zu nehmen, zumal Spaltpatienten, wie erwähnt, im GzVeN nicht ausdrücklich als „Ziel- gruppe“ genannt waren. 28 Als Ritter nach 1945 „entnazifiziert“ wurde, wurde seine Haltung zur „Unfruchtbarmachung“ nicht aufge- rollt. Im Fokus standen hingegen seine Mitgliedschaften in NS-Organisationen. Zu seiner Verteidigung behauptete Ritter in einem auszufüllenden Meldebogen fälschlicherweise, lediglich NSDAP- Anwärter gewesen zu sein, und auch dies lediglich vom 1. Mai 1937 bis zum 30. Oktober 1943. Am letztgenannten Tag sei er „von der Parteiaufnahme aus- geschlossen worden“, weil ein Urgroß- vater seiner Ehefrau jüdischer Abstam- mung gewesen sei. Aus der SA sei er ohnehin zum 1. Dezember 1938 aus- getreten. 29 Weitere Hinweise auf eine jüdische Herkunft des Urgroßvaters von Ritters Ehefrau konnten bisher nicht aufgefunden werden. EIGENTLICH EIN ANTIFASCHIST – SAGTE DER AUSSCHUSS Doch der behauptete Parteiausschluss ist schon deshalb nicht glaubhaft, weil Ritters NSDAP-Mitgliederkartei erhalten ist und dort weder ein Aus- schluss noch ein Austritt vermerkt sind. Auch andere im Bundesarchiv Berlin überlieferte Dokumente der Partei- korrespondenz widersprechen Ritters Darstellung: 30 Hier findet sich unter anderem ein von Ritter verfasstes Schreiben, das auf den 22. Dezember 1943 datiert ist und in dem Ritter explizit angibt, seit dem 1. Mai 1937 der NSDAP und zudem der SA anzu- gehören. Interessant ist auch, dass Ritter nach 1945 die Frage nach einer (archivalisch eindeutig nachweislichen) Mitglied- schaft im NS-Dozentenbund verneinte. Im Übrigen brachte er – wie zu der Zeit üblich – entlastende Zeugenaussagen bei, in denen ihm eine Distanz zum Nationalsozialismus bescheinigt wurde. So gelangte der zuständige Unter- suchungsausschuss der Uni Marburg im Juli 1946 zu der Einschätzung, dass Ritter eigentlich ein „Antifaschist“ ge- wesen sei; besagtes Urteil galt jedoch „vorbehaltlich der Entscheidung der Spruchkammer“. 31 SEINE STELLUNGNAHME FIEL JETZT NOCH FORSCHER AUS Im eigentlichen Spruchkammerverfah- ren wählte Ritter dann dieselbe Verteidi- gungsstrategie und fügte elf Zeugenaus- sagen an. Seine eigene Stellungnahme fiel noch forscher aus als vor dem Untersuchungsausschuss: Er rückte sich nun in die Nähe eines politisch Oppositionellen und formulierte: „Im Oktober 1943 löste ich aber auch meine Beziehungen zur Partei, indem ich mir die Parteianwartschaft entziehen liess.“ Und weiter: „Wie mir vielfältig bestätigt worden ist, habe ich der Gewaltherr- schaft des Nationalsozialismus immer nach besten Kräften aktiven Widerstand entgegengesetzt.“ 32 Am 19. Oktober 1946 wurde Ritter durch die Spruchkammer Marburg als „Mitläufer“ eingeordnet. Damit hatte er – wie viele andere bislang in dieser Reihe besprochenen 33 oder im Gesamt- projekt untersuchten 34 Zahnärzte – die Hürden der„Entnazifizierung“ über- sprungen. Allerdings vermerkte die Spruchkammer zur Frage des angeb- lichen Widerstands Ritters, dass „weder eine ausgesprochene Verfolgung noch eine antinaz.soz. Tätigkeit oder Haltung in erforderlichem Umfange zugestan- den werden kann“. Insofern sei Ritter nicht in Gruppe 5 („Entlastete“), son- dern „in die Gruppe 4 der Mitläufer ein- zustufen“. 35 ES FOLGTE EINE GLÄNZENDE NACHKRIEGSKARRIERE So oder so war nun der Weg frei für eine glänzende Nachkriegskarriere, in der Ritter nicht nur einen Lehrstuhl übernehmen, sondern auch, wie ein- gangs erwähnt, hohe Auszeichnungen und Positionen erhalten sollte. Selbst das Amt des Rektors wurde ihm an- getragen – doch Ritter lehnte wegen anderweitiger Verpflichtungen ab. 36 Ritters Erfolge erklären sich nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er in der Bun- desrepublik das Image einer integren und honorigen Persönlichkeit besaß. Wesentlichen Anteil an diesem positi- ven Bild hatten Ritters akademische Schüler – namentlich Kristen und Stahl, die ihn in zahlreichen Laudationes und Nachrufen mit Superlativen bedachten. So nannte Kristen Ritter einen „Mann vornehmen Verhaltens und nobler Gesinnung“ 37 , dessen „persönliche Inte- grität“ 38 und „Ehrlichkeit“ 39 besondere Erwähnung verdienten. Zudem betonte er, dass Ritters „besondere Liebe“ der „Behandlung von Kindern und Jugend- lichen mit Lippen-Kiefer-Gaumen- spalten“ gegolten habe. 40 Speziell die letztgenannte Aussage mutet – mit dem Wissen von heute – geradezu zynisch an. \ Reinhold Ritter Quelle: Kurt Kristen, Zur Geschichte der Kieferchirurgie dargestellt am Beispiel der Rehabilitation von Trägern einer Lippen- Kiefer-Gaumenspalte, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissen- schaften, Mathematisch-Naturwissenschaftli- che Klasse 1993/94, Abh. 2, Springer Verlag Heidelberg 1994, S. 8. 28 Boehm, 1938; Thieme, 2012 und 2018; 29 HHStA Wiesbaden, Abt. 520/27, Nr. 4543, 1946 (Schreiben von Alfred Kirk, 1–5); Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 312; 30 BArch Berlin VBS 1/1140039085; Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 312; 31 HHStA Wiesbaden, Abt. 520/27, Nr. 4543, 1946 (Schreiben des Planungsausschusses, 10.07.1946); Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 306; 32 HHStA Wiesbaden, Abt. 520/27, Nr. 4543, 1946 (Schreiben von Reinhold Ritter, 2); Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 309; 33 Groß, 2020a-e; 34 Groß/Schmidt/Schwanke, 2016; Schwanke/Krischel/Groß, 2016; Groß, 2018c; Groß, 2018d, 175; Groß/Westemeier/Schmidt, 2018a; Groß, 2019 (hier Kapitel 13); Groß/Krischel, 2020; Groß, 2020f; 35 HHStA Wiesbaden, Abt. 520/27, Nr. 4543, 1946 (Klageschrift, Datum unleserlich); Groß/Westemeier/Schmidt, 2018b, 311; 36 UA Heidelberg, Stahl, 1988, 10; 37 Kristen, 1983, 285; 38 Kristen, 1987, 2470; 39 Kristen, 1983, 284f.; 40 Kristen, 1987, 2470 ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 70 | GESELLSCHAFT

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