Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1033) ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Erich Kohlhagen – 77 Monate in KZ, Überlebender Thorsten Halling, Matthis Krischel Erich Kohlhagen (1908–1970) erreichte im März 1946 Dayton, Ohio in den USA. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 77 Monate Haft in deutschen Konzentrationslagern überlebt. Seine traumatischen Erfahrungen als „Schutzhaftjude 12110“ schildert er in einem erst 2010 veröffentlichten Bericht. G eboren am 7. Februar 1908 in Heidelberg, verbrachte Kohl- hagen seine Kindheit ab 1913 mit zwei Geschwistern in Halle an der Saale. Nach dem Abitur begann er im Wintersemester 1928/29 in München ein Studium der Zahnmedizin. Unmit- telbar nach Erhalt der Approbation und Abschluss seiner Dissertation 1 im Mai 1932 zog es ihn wieder zurück nach Halle, wo er auf der zentralen Leipziger Straße 16 eine eigene Praxis eröffnete. Nicht einmal ein Jahr später bedeutete die Machtübernahme der National- sozialisten für ihn das Ende der ver- tragszahnärztlichen Tätigkeit: Als Jude wurde ihm die Kassenzulassung ent- zogen. Kohlhagen engagierte sich in der jüdischen Gemeinde und leitete den „Bund deutsch-jüdische Jugend“. Zu diesem Zeitpunkt praktizierten zehn Ärzte und mit Max Hirsch (*1876, ver- mutlich emigriert) und Leo Lewinski (1877–1943, Theresienstadt) zwei weitere Zahnärzte jüdischer Herkunft in Halle 2 . Am 24. Oktober 1938 verhaftete die Gestapo Kohlhagen in seiner Praxis. Erst nach gewalttätigen Verhören erfuhr er, dass ihm „Verächtlichmachung des Deutschen Reiches“ im Ausland vorgeworfen wurde. Kohlhagen bereitete zu diesem Zeitpunkt zusammen mit seiner Familie die Aus- reise in die USA vor und stand mit seinen dort lebenden Verwandten in brieflichem Kontakt. Am 9. November, dem Tag der Pogrome gegen Juden in ganz Deutsch- land, füllte sich das Gefängnis in Halle, weil es auch zu Massenverhaftungen jüdischer Männer kam. Am 12. Novem- ber 1938 wurden zahlreiche von ihnen ins Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin gebracht. In seiner Autobiografie schreibt Kohl- hagen, er sei zunächst froh gewesen, „endlich aus dem düsteren Gefängnis gekommen zu sein. In Unkenntnis der Dinge sagte ich mir, dass es auch im KZ nicht schlimmer sein könne.“ 3 Während es seinen Eltern und der Schwester 1939 gelang, in die USA zu emigrieren, begann für Kohlhagen nun ein fast siebenjähriges Martyrium, das ihn durch vier Konzentrationslager führte: Sachsenhausen, Groß-Rosen, Auschwitz-Monowitz und Mittelbau- Dora. Kohlhagen ist einer von 43 aus Halle verschleppten Juden, die den Holocaust überlebten. 4 FOLTER DURCH AUFHÄNGEN AM PFAHL Am 4. April 1945 konnte er aus dem KZ Mittelbau-Dora fliehen und wurde am 11. April durch die amerikanische Armee endgültig befreit. Noch in einem Lager für Displaced Persons in Paris verfasste er seinen Erinnerungs- bericht „Zwischen Bock und Pfahl“ 5 , in dem er beschreibt, wie „ein jüdischer Verfolgter mehr als sieben Jahre im Sys- tem der deutschen Konzentrationslager am Leben bleiben konnte“. Der Bericht sollte jedoch erst 2010 – 65 Jahre später – gedruckt werden. 6 Kohlhagen bot das Manuskript direkt nach seiner Ankunft in den USA der „War Crimes Commission“ in Washington D.C. an, in der Hoffnung entsprechende Ermittlungen zu unterstützen. Die Kommission übersetzte allerdings nur wenige Seiten ins Englische, so dass eine Verwendung bei strafrechtlichen Ermittlungen unklar bleibt. Kohlhagen selbst wurde erst in den 1960er-Jahren im Rahmen von Ermitt- lungen gegen SS-Wachpersonal des KZ Sachsenhausen als Zeuge befragt. 7 Auch in dieser Aussage und in seinen Erklärungen im „Wiedergutmachungs- verfahren“ im Nachkriegsdeutschland berichtet er über die Folter durch Auf- hängen an einem Pfahl. Er hatte einen Mithäftling bei dem Versuch unterstützt, einen Brief aus dem Lager zu schmuggeln, die SS versuchte ihm dazu eine Aussage abzupressen. Kohlhagen beschreibt die Tortur: „Ich hatte das Gefühl, dass meine Arme immer länger wurden. Krampfhaft versuchte ich, mit den Füßen einen Halt zu finden. Diese Versuche verursachten aber nur noch stärkere Schmerzen, sodass ich es bald vorzog, vollständig ruhig hängen zu bleiben. Ab und zu er- hielt ich einen Faustschlag in die Ma- gengrube, der mich dann wie ein Uhr- pendel hin- und herschwingen ließ [...]. Nachdem ich abgebunden worden war, fiel ich zunächst auf den Boden. Meine Arme hingen an mir, als ob sie gar nicht mir gehörten. Es war mir unmöglich, sie auch nur einen Zentimeter zu heben.“ 1 Kohlhagen, 1932; 2 Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle, 3. Auflage (2008): http://www.gedenkbuch.halle.de/vorwortde.php [30.04.2020]; 3 Kohlhagen, 2010, S. 13; 4 Schmuhl, 2007, 193, 224; 5 Kohlhagen, 2010, 125; 6 Piorkowski, 2010, 125; 7 Piorkowski, 2010, 124, Anm. 2 Erich Kohlhagen mit dem Patienten Henry (Heinz) Schlesinger, Foto: Mediathek der Gedenkstätte Sachsenhausen | 71

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