Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 110, Nr. 10, 16.5.2020, (1034) Es folgten hundertelf Tage Einzelhaft in einer Dunkelzelle, während der er nur jeden vierten Tag zu essen bekam. 8 „Authentizität“ und „Faktizität“ 9 von autobiografischen Schriften von Holocaust-Überlebenden und deren Bedeutung für das Gedenken und die historische Forschung wurden kontro- vers diskutiert. 10 Schon im Vorwort be- tont Kohlhagen, dass „alle folgenden Angaben von mir selbst erlebt oder be- obachtet wurden und dass ich Namen und Daten nur dann angegeben habe, wenn ich mich für deren Richtigkeit voll und ganz verbürgen kann“. 11 Als historische Quelle ist sein Erfahrungs- bericht deshalb besonders glaubhaft, weil er früh entstand, also vor einer breiten medialen Bearbeitung des Themas, das die Erinnerung von Zeit- zeugen überformen konnte. Gleich- zeitig vermittelt der Bericht bis heute jene Fassungslosigkeit, die nicht nur bei der ersten Konfrontation mit dem Holocaust aufsteigt. 12 Für die Zahnheil- kunde hatten dieses Gefühl bereits die viel beachteten Memoiren von Benjamin Jacobs „The dentist of Auschwitz“ aus dem Jahr 1995 vermittelt. 13 VOM LAGERHASEN ZUM KAPO Bereits Jahrzehnte zuvor war die Auto- biografie des Pathologen Miklós Nyiszli 14 – zuerst 1946 auf Ungarisch erschienen – durch eine englische Übersetzung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ge- worden. 15 Zugleich bezeugen diese Schicksale die moralischen Kompro- misse, die Nyiszli, Jacobs, Kohlhagen und viele andere Häftlings(zahn)ärzte 16 und „Funktionshäftlinge“ für ihr eigenes Überleben eingehen mussten. 17 Kohlhagen beschrieb in der Hierarchie der Häftlinge sich zunächst als „Lager- hase“, das heißt, abhängig von einem Überlebensnetzwerk, dass vor allem vom Geschick der „Lagerfüchse“, erfah- renere Häftlinge, abhing. Zu jenen ge- hörten vor allem Funktionshäftlinge wie Kapos. Durch ihre Kollaboration mit der SS stellten sie eine Zwischen- schicht zwischen Tätern und Opfern dar. 18 Für nicht wenige Überlebende des Holocaust waren sie als Kollaborateure der SS Teil der Täter, auch wenn die Forschung insbesondere die Rolle der Kapos inzwischen differenzierter be- urteilt. 19 Da die Zusammenstellung der Arbeitskommandos in zunehmendem Maß von entsprechenden Funktions- häftlingen vorgenommen wurde, stellt sich die Frage nach deren Möglichkei- ten und Grenzen. 20 Bereits in Sachsen- hausen hatte Kohlhagen nach eigener Einschätzung den Status eines erfah- renen Lagerhasen erreicht, der sich mo- ralische Urteile der Funktionshäftlinge zutraute und den Neuankömmlingen voraus war. 21 Kohlhagens Odyssee führte nun weiter über 13 Monate in Granitsteinbrüchen im KZ Groß-Rosen nach Auschwitz- Monowitz. Hier leitete Kohlhagen nun selbst ein Arbeitskommando für Elektrik von über 50 Mann an: „Während ich die ganze Zeit vorher immer nur für mich zu sorgen hatte, sah ich mich nun vor die schwere Aufgabe gestellt, für einen, wenn auch kleinen Teil der Lagers ver- antwortlich zu sein.“ 22 Ein Mithäftling erinnerte sich an den Kapo Kohlhagen: „On all those days, one could read the words of prayers on their lips. Kapo Kohlhagen showed respectful under- standing in this regard.“ 23 Kohlhagen selbst betonte resümierend über seine Zeit als Funktionshäftling: „Jedenfalls kann ich mit gutem Gewissen behaup- ten, dass in diesen anderthalb Jahren keiner aus meinem Kommando gestor- ben ist.“ 24 INHABER EINER REINIGUNG: SEIN 2. LEBEN IN DEN USA Kohlhagens zweites Leben in den USA war nicht glücklich. Zu den Folgen seiner KZ-Haft gehörten Alpträume, chronische Schmerzen sowie körper- liche Schwäche. Seine Frau, die er in den USA heiratete, berichtete über seine Verbitterung, in der neuen Heimat nicht mehr als Zahnarzt arbeiten zu dürfen. Bereits bei seiner Ankunft dort hatte er erkennen müssen, dass seine zahnärztlichen Kenntnisse nach sieben Jahren Haft „als veraltet galten“ 25 . Bis zu seinem Tod am 24. November 1970 im Alter von 62 Jahren führte Kohlhagen eine chemische Reinigung. 26 Trotz der eindringlichen Schilderungen erreichte Kohlhagens Bericht lange keine breite Leserschaft. Auch eine englische Übersetzung, die er mithilfe seiner Frau Rita Hyber Kohlhagen erstellt hatte, blieb zu Lebzeiten ebenso unveröffentlicht wie seine Autobiografie „Born Twice“. Spät wirken Kohlhagens Lebenserinne- rungen allerdings doch nach: Schon vor der Veröffentlichung im Jahr 2010 wurde das Manuskript in der Forschungs- literatur zu den einzelnen Konzentrations- lagern zitiert. 27 Seine Aussagen finden sich aktuell auch in Ausstellungsprojekten wieder. 28 Als Überlebender von vier Konzentrations- lagern gehört Erich Kohlhagen zu einer sehr kleinen Gruppe. Für ihn war es – aus verständlichen Gründen – undenkbar, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren. In seiner neuen Hei- mat konnte er jedoch nicht wieder als Zahnarzt arbeiten. Bis zu seinem Tod litt Kohlhagen an den psychischen und physischen Folgen der Lagerhaft. Als Zeitzeuge fand er zunächst nicht viele Zuhörer und Leser. Heute illustrieren seine Berichte aus erster Hand eindrück- lich den unmenschlichen Alltag in der Zeit des Nationalsozialismus. \ DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat 8 Kohlhagen 2010, 52–53; 9 „A survivor’s testimony is privileged in that it is authentic, but the factuality is not necessarily so priviliged“ (James Young, Writing and Rewriting the Holocaust, Bloomington/Indianapolis 1988, 88); 10 Star, 2004, 191–204; 11 Kohlhagen, 2010, 8; 12 Friedländer, 2007, S. 26; 13 Jacobs, 1995; 14 Turda, 2014, 43–58; 15 Nyiszli, 1960; 16 Siegel, 2014), 450–481; 17 Brown, 2017, pp. 327–339. 18 Astrid Ley, in: Beddies T, Doetz, S, Kopke C Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus: Entrechtung …, 246; 19 Ludewig-Kedmi, 2001; 20 Kuß, 1995 16; 21 Piorkowski, 2010, 128–132; 22 Kohlhagen, 2010, 90; 23 Schupack, 1986, 145; 24 Kohlhagen, 2010, 91; 25 Piorkowski, 2010, 127; 26 Piorkowski, 2010, 127; 27 Langbein, 2004, 28, 124, 157, 285, 298–99; Michel, 2003, 216, 220; Königseder, Angelika, Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof, Band 6, 202, 220; 28 „Im Reich der Nummern, wo die Männer keine Namen haben“ Haft und Exil der Novemberpogrom-Gefangenen im KZ Sachsenhausen. http://in-the-country-of-numbers.com/hh/#program 72 | GESELLSCHAFT

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