Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 11

zm 110, Nr. 11, 1.6.2020, (1116) russische Zarenfamilie. Ausgangspunkt als Trägerin der Krankheit war hier vermutlich Queen Victoria von Groß- britannien, deren Enkelin Alix von Hessen-Darmstadt den Zaren Nikolaus II. heiratete und die Krankheit auf ihren gemeinsamen Sohn Alexei, den letzten Zarewitsch, übertrug. Hämophilie ist heutzutage die zweit- häufigste vererbbare Blutgerinnungs- störung, von der weltweit mehr als 400.000 Menschen betroffen sind [Skinner, 2006]. Im Jahr 2017 waren laut jüngsten Berichten der World Federation of Hämophilia (WFH) in Deutschland circa 4.550 Patienten mit Hämophilie in Behandlung [WFH Report, 2018]. Dabei leiden 80 Prozent der Patienten an einem hereditären Faktor-VIII-Mangel (Hämophilie A) und 20 Prozent an einem Faktor-IX- Mangel [Franchon, 2005]. Da es sich um eine X-chromosomal-rezessiv vererbbare Erkrankung handelt, sind in der Regel Männer betroffen, während Frauen asymptomatische Träger sind. Zwei Drittel aller betroffenen Patienten haben eine bekannte familiäre Vorge- schichte, bei allen anderen handelt es sich um spontane Neumutationen [Bolton-Maggs, 2003]. Durch diese Genmutationen kommt es zu einer ge- ringeren Faktorsynthese in der Leber, in der Niere und im Endothelium. Als Plasmanormwert für den Faktor VIII gelten 200 ng/ml und 5.000 ng/ml für den Faktor IX [Liras, 2019]. Da der Faktor VIII sich aus zwei funktio- nellen Einheiten zusammensetzt, dem X-chromosomal kodierten antihämo- philen Globin und dem auf Chromo- som 12 kodierten von-Willebrand- Faktor, bestimmt letztendlich die Restfaktorenaktivität den Schweregrad der Hämophilie A [Depprich, 2011]. Abhängig vom laborchemisch nach- weisbaren Defizit zum Referenzwert können drei Schweregrade unterschieden werden: \ die milde Hämophilie bei einer Faktoraktivität zwischen 6 bis 40 Prozent, \ die mittelschwere Hämophilie bei einer Faktoraktivität zwischen 1 bis 5 Prozent und \ die schwere Hämophilie bei einer Faktoraktivität unter 1 Prozent [White, 2001]. Infolge der gestörten plasmatischen Homöostase besteht für dentoalveoläre chirurgische Eingriffe ein erhöhtes in- tra- und postoperatives Blutungsrisiko [Harrington, 2000]. Deshalb ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen behandelndem Zahnarzt und betreuendem Hämatologen zwingend erforderlich. Eine perioperative Faktor- substitution wird in der Literatur viel- fach empfohlen [Hermans, 2009; Stubbs, 2001]. Als bewährter Gold- standard hierfür gilt die Infusion von plasmatisch oder rekombinant herge- stellten Faktorpräparaten. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit von Faktor VIII (8–12 Stunden) und Faktor XI (18–24 Stunden) sind häufige, gewichts- abhängige Dosierungen erforderlich. Diese sind individuell nach Blutungs- risiko, Blutungstyp und pharmako- kinetischem Profil des Patienten an- zupassen und bedürfen daher engmaschiger Kontrollen. Während die Verwendung von rekom- binant hergestellten Faktorpräparaten das Risiko einer Virusübertragung im Wesentlichen reduziert, entwickeln weiterhin 8 bis 20 Prozent aller Hämo- philie-A- und 2,5 bis 20 Prozent aller Hämophilie-B-Patienten als Antwort auf vorausgegangene Faktorgaben An- tikörper [Sultan, 1992]. Dies erschwert die Therapie ungemein, da dann im Vorfeld beispielsweise eine Immun- modulation mittels Immunsuppressiva durchgeführt werden muss [Bolton- Maggs, 2003]. Alternativ kann bei milden bis mittelschweren Fällen der Hämophilie A Desmopressin als synthetisches Vasopressinderivat eingesetzt werden. [Mannucci, 1997; Franchini, 2010] Bei gutem Ansprechen kann dieses die Plasmalevel des von- Willebrand-Faktors und des Faktors VIII präoperativ auf das Drei- bis Sechs- fache erhöhen [Castaman, 2008]. Da die Wirkung von Patient zu Patient stark variiert, sollte vor einer chirur- gischen Intervention ein entsprechender Test erfolgen. In Hinblick auf die Auswahl des Anästhesieverfahrens sollte eine Intu- bationsnarkose – soweit möglich – ver- mieden werden, da durch die Intubation ein Kehlkopfhämatom entstehen kann [Frachon, 2005]. Theoretisch besteht auch bei Techniken wie der Leitungs- anästhesie des Nervus alveolaris infe- rior / Nervus lingualis die Gefahr der Entstehung eines parapharyngealen Hämatoms durch die Verletzung größerer Gefäße. Alternativ besteht je nach operativem Behandlungsumfang die Möglichkeit der intraligamentären Anästhesie, wobei bei sachgemäßer Durchführung keine solche Blutung PD DR. DR. PEER W. KÄMMERER, MA, FEBOMFS Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen, Universitätsmedizin Mainz Augustusplatz 2, 55131 Mainz peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de Foto: privat Fotos: Peer W. Kämmerer Abb. 3: Klinische Situation – sieben Tage postoperativ 58 | ZAHNMEDIZIN

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