Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 11
zm 110, Nr. 11, 1.6.2020, (1127) ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Engelbert Decker – Zahnarzt in Hamburg, Verhaftungen, Flucht in den Tod Matthis Krischel, Ulf Bollmann, Thorsten Halling Der Hamburger Zahnarzt Engelbert Decker (1889–1941) wurde ab 1936 mehrmals verhaftet, weil man ihm vorwarf gegen § 175 verstoßen zu haben, das heißt in Deutschland zu dieser Zeit kriminalisierte homosexuelle Handlungen vorgenommen zu haben. In der Folge wurden ihm der Doktortitel und die Approbation aberkannt. Nach der dritten Verhaftung sah er keinen anderen Ausweg als die Flucht in den Tod. E ngelbert Decker wurde 1889 in Werne/Westfalen geboren. 1912 schloss er in München das Studium der Zahnmedizin ab. Von 1913 bis 1915 arbeitete er als Assistenz- zahnarzt in Vegesack bei Bremen, im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett für Kieferverletzte in Münster/Westfalen. 1 Im Jahr 1920, nach der Promotion an der Universität Hamburg, ließ er sich dort als selbstständiger Zahnarzt nie- der. 1935 befand sich seine Praxis am Mundsburger Damm 65, unweit der Außenalster. 2 Zu seinen Patienten zähl- ten alle sozialen Schichten „vom ein- fachen Arbeiter bis zum Professor“ 3 . IHM DROHTE DIE „FREIWILLIGE ENTMANNUNG“ Decker bezeichnete sich selbst als homosexuell. 4 Damit gehörte er im Nationalsozialismus zu einer Gruppe von Verfolgten, die von Gefängnis, Zuchthaus und KZ bedroht waren und von denen viele zur Einwilligung in eine – formal freiwillige – „Entman- nung“ (Kastration) gezwungen wur- den. Bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik waren sexuelle Handlungen zwischen Männern nach § 175 strafbar gewesen. 1935 verschärf- ten die Nationalsozialisten die Geset- zeslage. 5 Männer, die mehrfach gegen den § 175 verstoßen hatten, konnten als „Gewohnheitsverbrecher“ auf unbestimmte Zeit in Sicherungs- verwahrung genommen werden. Be- reits seit 1933 galt das „Gesetz zur Ver- hütung erbkranken Nachwuchses“, das die Grundlage für Zwangsterilisationen von Personen mit bestimmten für erb- lich gehaltenen Krankheiten war. Eine Erweiterung dieses Gesetzes „erlaubte“ ab 1935 auch die „freiwillige Entman- nung“ von nach § 175 straffällig gewordenen Personen, falls „weitere Verfehlungen durch diese Personen zu befürchten seien“. 6 Von der Kastration waren also vor allem Männer bedroht, die mehrfach bei der Kriminalpolizei aktenkundig geworden waren. 1936 wurde Decker erstmals im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. Nach der An- zeige eines Mannes, der zuvor von Decker Geld für sexuelle Handlungen angenommen hatte, wurde Decker zu acht Monaten Gefängnis nach § 175 verurteilt. Aus dem Urteil des Gerichts spricht der nationalsozialistische Zeit- geist: „Das Gericht ist der Auffassung, dass der Angeklagte hartnäckig leugnet und daher keineswegs irgendwelche besondere Milde verdient. Er als Arzt und einem gebildeten Stande angehö- rend, darf sich nicht erlauben, der Wahrheit derartig mit seinen Behaup- tungen ins Gesicht zu schlagen. Von einem ungebildeten Manne kann man wohl so etwas erwarten und es einem 1 Rosenkranz/Bollmann (2014); 2 Heinrich/Ottow (1935); 3 Rosenkranz/Lorenz (2008); 4 Eisentraut (2009); 5 Jellonnek (1990); 6 Sparing/Krischel (2020). Foto: Wikimedia Commons Stolperstein für Engelbert Decker | 69
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