Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 11
zm 110, Nr. 11, 1.6.2020, (1128) ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. solchen nicht so verübeln wie dem Angeklagten [...].“ 7 In der Folge der Verurteilung entzog die Universität Hamburg Decker den Doktortitel. Depromotionen trafen im Nationalsozialismus nicht nur jüdisch- stämmige Akademiker, sondern auch nach § 175 verurteilte Personen. Für die Universität München beispielswei- se sind 18 Aberkennungen auf dieser Grundlage dokumentiert. 8 Eine breite Auseinandersetzung mit Depromotio- nen an deutschen Universitäten, verbunden mit der öffentlichen Reha- bilitation, setzte erst zu Beginn der 2000er-Jahre ein. 9 Deckers Klage vor dem Verwaltungsgericht Hamburg lässt vermuten, dass ihm gleichzeitig die Approbation entzogen wurde. Dabei mag es auch eine Rolle gespielt haben, dass ihm Alkoholismus und Drogensucht vorgeworfen wurden. 10 1941 wurde Decker aufgrund einer Aussage eines „Strichjungen“ erneut festgenommen, der bei einem Polizei- verhör Deckers Namen genannt hatte. Er wurde im innerstädtischen Polizei- gefängnis Hütten inhaftiert; einen Tag darauf erhängte er sich in seiner Zelle. DEPROMOVIERT, VERFOLGT UND GEFOLTERT Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland noch weiter radikalisiert. Seit 1939 wurden mehrfach nach § 175 verurteilte Männer regelmäßig vor die Wahl zwischen Einwilligung in die Kastration und zeitlich unbegrenzter Sicherungsverwahrung (in Gefängnis- sen oder Zuchthäusern) oder Vorbeu- gehaft (in Konzentrationslagern) gestellt. Ab 1940 sollte die Zahl der Einweisungen von Homosexuellen in die Konzentrationslager deutlich zu- nehmen. Dort waren sie durch den ro- sa Winkel auf der Häftlingsuniform deutlich zu erkennen. Sie wurden von der SS und einigen Mithäftlingen besonders schikaniert. Ihre Chancen, die Konzentrationslager zu überleben, waren noch geringer als im Durch- schnitt. 11 Ebenfalls 1940 wurde ange- ordnet, dass die Kriminalpolizei im Fall einer „freiwilligen Entmannung“ von der KZ-Einweisung absehen solle, so dass die Einwilligung in der Regel der einzige Weg war, der KZ-Haft zu ent- kommen. Gleichzeitig kam es in vielen Fällen nicht zur in Aussicht gestellten Freilassung. Auch sind Beispiele be- kannt, in denen die Einwilligung in die Kastration in Konzentrationslagern durch Folter erzwungen wurde. 12 Der ebenfalls in Hamburg ansässige Zahnarzt Werner Scholtyssek (1904–1985) war zwischen 1937 und 1943 viermal im KZ Fuhlsbüttel inhaf- tiert und ab 1941 wegen homosexuel- ler Handlungen dreimal zu Gefängnis und zuletzt zu Zuchthaus mit anschlie- ßender Sicherungsverwahrung verur- teilt worden. 1942 wurde ihm die Approbation entzogen, 1944 willigte er – unter der Bedingung der Zuchthaus- haft und mit der Perspektive, aus der Sicherungsverwahrung entlassen zu werden – „freiwillig“ in seine Kastrati- on ein. Nach Kriegsende praktizierte er wieder in Hamburg als Zahnarzt, 1952 wurde seine Einstufung als „Gewohn- heitsverbrecher“ zurückgenommen. 13 SEIT 2009 WÜRDIGUNG DURCH EINEN STOLPERSTEIN Engelbert Deckers Suizid kann auch als Entscheidung verstanden werden, Zuchthaus, Konzentrationslager und erzwungener Kastration zu entgehen. Vor seiner Praxis am Mundsburger Damm 65 erinnert seit 2009 ein Stol- perstein (Abbildung) an sein Schicksal. Die Patenschaft für den Stolperstein hat die Hamburger Zahnärztekammer übernommen. 14 Decker ist damit das bisher einzige auch von der Zahnärzte- schaft in dieser Form gewürdigte Opfer der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus. Wie viele weitere Zahnärzte und Den- tisten Verfolgungsgeschichten wie Decker und Scholtyssek in der Zeit des Nationalsozialismus erlebten, ist kaum zu bestimmen. Hinweise geben die mit Berufsangaben erschlossenen Straf- prozessakten aus den Staats- und Lan- desarchiven in Hamburg, Hessen und Niedersachsen. Bei diesem nicht reprä- sentativen Befund ist auffällig, dass von den insgesamt elf wegen Vergehen gegen § 175 verfolgten Männern vier in den Tod flüchteten. Der Anteil der Suizide unter ihnen ist damit deutlich höher ist als unter den anderen Grup- pen von verfolgten Zahnärztinnen und Zahnärzten. In der Bundesrepublik galt der § 175 bis 1969 in der verschärften Form von 1935 und wurde erst 1994 aufgeho- ben. In der DDR hatte seit 1950 die etwas mildere Variante aus dem Kaiser- reich gegolten, die bereits 1968 abge- schafft wurde. 15 Das bedeutet, dass in der Bundesrepublik noch bis in die 1960er-Jahre einvernehmlicher, gleich- geschlechtlicher Verkehr zwischen volljährigen Männern mit Gefängnis bestraft wurde. Dazu konnte für einige Gruppen – wie Beamte oder Studenten – noch eine Disziplinargerichtsbarkeit kommen. Weil homosexuelle Hand- lungen weiter kriminalisiert blieben, fand auch eine Anerkennung national- sozialistischen Unrechts erst spät statt. 16 \ 7 Zitiert nach: Rosenkranz/Bollmann/Lorenz (2009); 8 Harrecker (2007); 9 Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg (2011); 10 Rosenkranz/Bollmann (2014); 11 Cuerda-Galindo/López-Muñoz/Krischel/Ley (2017); 12 Sparing/Krischel (2020); 13 Rosenkranz/Bollmann/Lorenz (2009); 14 Eisentraut (2009); 15 Rosenkranz/Bollmann/Lorenz G (2009); 16 Lorenz/Bollmann (2013). DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat 70 | GESELLSCHAFT
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