Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 13

zm 110, Nr. 13, 1.7.2020, (1331) Situationswahrnehmung, zu typischen physiologischen Veränderungen und zu Flucht-, Ausweich- und Vermei- dungsreaktionen. Sie ist mit Risiken für die Zahngesundheit verbunden und kann auf psychopathologische Prozesse hinweisen. Die genaue psychische Diagnose obliegt nicht dem Zahnarzt, sondern dem Psychiater, Psychosoma- tiker oder psychologischen Psycho- therapeuten“ [DGZMK, 2019]. PRÄVALENZ Eine umfassende Diagnostik, die die Zahnbehandlungsangst als Erkrankung nach den Kriterien des ICD oder DSM erfasst, wird meist nur in Studien mit Klinikpatienten und kleinen Stich- proben durchgeführt. Die Berechnung von Prävalenzraten erfolgt überwie- gend auf der Grundlage subjektiver Patientenangaben, die mittels verschie- dener Fragebögen erhoben werden. Durch unterschiedliche Erhebungs- methoden und die unterschiedliche Zusammensetzung der Stichproben ergeben sich teils stark differierende Angaben zur Prävalenz hoher Zahn- behandlungsangst. International schwanken die Zahlen zwischen 4 und 21 Prozent. Für Deutschland gehen die Autoren der Leitlinie davon aus, dass etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung an Zahnbehandlungsangst mit Krank- heitswert leiden. Dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Auch für jüngere Patienten wurden regelmäßig höhere Prävalenzraten ermittelt als für ältere – unter den 20- bis 30-Jährigen gibt es in Deutschland den höchsten Anteil hochängstlicher Patienten. ÄTIOLOGIE Die Entstehung von Zahnbehandlungs- angst wird als multifaktorielles Gesche- hen angesehen, wobei sie beim Er- wachsenen in der Regel nicht spontan und neu auftritt, sondern nach den Angaben der Betroffenen bereits in der Kindheit begonnen hat. Als empirisch gut belegt gelten die Einflussfaktoren „traumatische Erfahrungen“, „familiäre Einflüsse“ und „individuelle Eigen- schaften“ im Sinne einer spezifischen Vulnerabilität. So führen Patienten mit Zahnbehand- lungsangst häufig traumatische, meist mit Schmerzen assoziierte Erlebnisse bei Zahnbehandlungen als Grund für ihre Ängste an: „Schmerz als (unkondi- tionierter) Auslöser für Angst und Ver- meidung der Situation, in der Schmerz auftreten kann (als gelernte Reaktion), wird nach wie vor als eine wichtige Basis- erklärung dafür angesehen, warum Angst vor der Zahnbehandlung zur Vermeidung führt“ [DGZMK, 2019]. Insbesondere für Kinder sind familiäre Einflüsse auf die Ausbildung von Zahn- behandlungsangst gut belegt. Eine negative Kommunikation über die Zahnbehandlung und Angstverhalten von Eltern und Geschwistern in der Zahnarztpraxis können bei Kindern Ängste auslösen. Auch gut gemeinte Äußerungen wie „Du musst keine Angst haben“ oder „Der Zahnarzt tut Dir nicht weh“ können eine gegenteilige Wirkung erzielen, da das Gehirn Ver- neinungen weitgehend negiert. Wahr- genommen werden nur die Inhalte „Angst“ und „wehtun“. Die individuelle psychische Konstitution ist als „endogene“ Einflussgröße maß- geblich daran beteiligt, ob sich aus dem Einwirken „exogener“ Faktoren wie traumatischen Erfahrungen, ge- lernten familiären Einflüssen oder auch „normalen“ Angst- und Schmerz- erfahrungen eine pathologische Zahn- behandlungsangst entwickelt. Eine „normale“ Zahnbehandlungsangst, die meist nicht mit einem Vermeidungs- verhalten einhergeht, kann sich in eine Zahnbehandlungsphobie mit extremer Angst und der Vermeidung der Behandlung steigern. Zwischen Zahnbehandlungsangst und anderen psychischen Störungen be- stehen zahlreiche Komorbiditäten. Stu- dien zufolge leiden bis zu 40 Prozent der Zahnbehandlungsphobiker unter weiteren psychischen Störungen wie Angsterkrankungen und Depressionen. Auch traumatische Erfahrungen außer- halb des Erfahrungskreises Zahn- behandlung können Einfluss auf eine gewisse Anfälligkeit für die Entwick- lung von Zahnbehandlungsängsten haben: Studien fanden beispielsweise häufiger sexuellen Missbrauch bei Zahnbehandlungsphobikern. Hat sich die Zahnbehandlungsangst einmal etabliert, geraten Betroffene in einen sich selbst verstärkenden Teufels- kreis: „Nach Berggren und Meynert (1984) führt Angst zur Vermeidung der Zahnbehandlung, wodurch die Zahn- gesundheit sich verschlechtert, was wiederum zur Erwartung invasiver Be- handlungsmaßnahmen mit höheren Risiken für Schmerz und Belastung führt, die die Angst verstärken. Empirische Bestätigung für diese wechselseitigen Beziehungen konnten De Jongh et al. (2011a) und Armfield et al. (2007), (2013) liefern“ [DGZMK, 2019]. DIAGNOSTIK Die Zahnbehandlungsangst mit Krank- heitswert wird in den klinischen Klas- sifikationssystemen unter den pho- bischen Störungen eingeordnet und dort zu den spezifischen Phobien (ICD-10 F40.2, Angst vor spezifischen Situationen; DSM 300.29) gerechnet. In der Zahnarztpraxis kann eine diffe- renzialdiagnostische Abgrenzung zur Angst mit oder ohne Krankheitswert nicht vorgenommen werden. Bei Ver- dacht auf das Vorliegen einer Angst mit Krankheitswert obliegt die Diagnostik dem Psychotherapeuten oder Psychia- ter – nur durch die interdisziplinäre Kooperation kann auch die Erfassung der häufig vorliegenden Komorbiditäten gewährleistet werden. Da die Zahnbehandlungsangst jedoch in der Regel in der zahnärztlichen Pra- xis auftritt, obliegt es dem Zahnarzt, bei Verdachtsfällen den diagnostischen Prozess einzuleiten. Die Leitlinie gibt dazu folgende Empfehlung: „Bereits in dem Erstanamnesebogen sollte nach der Angst vor der Zahn- behandlung gefragt werden. Beantwor- tet der Patient diese mit „Ja“, kann er seine Angst mit einer dort integrierten Visuellen-Analog-Skala (VAS) einschät- zen. Liegt die Angst über 50 Prozent der Gesamtlänge der VAS, sollte ein zusätzlicher Angstfragebogen beant- wortet werden, der auch verschiedene Behandlungssituationen anspricht. Hier bietet sich der Hierarchische Angst- fragebogen (HAF) oder die deutsche Version des Dental Anxiety Scale (DAS) oder des Modified Dental Anxiety Scale (MDAS) an. Aufgrund des weiten Ver- breitungsgrades des Hierarchischen Angstfragebogens (HAF) in Deutsch- land ist dieser Fragebogen zu bevorzu- gen. Bei der Ermittlung einer hohen Zahnbehandlungsangst sollte zudem nach der Dauer der Vermeidung ge- fragt werden. Bei gleichzeitiger Vermei- dung der Besuche beim Zahnarzt liegt | 65

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