Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14
auseinander, dennoch emigrierten nach 1933 alle Familienmitglieder auf unterschiedlichen Wegen. 1 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich Michelsohn freiwillig zum Frontdienst gemeldet. Seine Erfahrun- gen in den Schützengräben an der Westfront ließen ihn schon bald an seinen Vorstellungen von Vaterlands- verteidigung und Heldentum zweifeln. Insbesondere enttäuschte ihn – wie viele andere jüdische „Frontkämpfer“ auch – der anwachsende Antisemi- tismus und der nun als vergeblich empfundene jüdische „Blutzoll“, jene circa 12.000 deutschen Gefallenen jüdischen Glaubens. 2 Michelsohn nahm nach Kriegsende seine Praxis in Dessau wieder auf und behandelte seine Patienten auch am Sabbat, dem jüdischen Ruhetag. Zugleich nahm er die neu geschaffene Möglichkeit einer zahnärztlichen Pro- motion wahr und schloss 1923 seine Doktorarbeit an der Berliner Friedrich- Wilhelms-Universität ab. DISSERTATION ÜBER SCHULZAHNPFLEGE Dessau hatte spätestens seit 1921 eine jährliche Schulzahnuntersuchung ein- geführt. Anders als in anderen Städten waren dafür keine eigene Strukturen in der städtischen Gesundheitsverwaltung geschaffen worden. 3 Die vier Volks- und vier Mittelschulen mit insgesamt 6.400 Schülerinnen und Schülern wur- den von den acht niedergelassenen Zahnärzten betreut. Das Engagement in der Schulzahnpflege konnte durch- aus auch im Kontext einer als Konkur- renz empfundenen Etablierung von Schulzahnkliniken stehen, wie sie zu dieser Zeit bereist in größeren Städten existierten. 4 Michelsohn betreute neben einer Volksschule auch die Hilfsschule Des- saus. 5 In seiner Dissertation unter- suchte er systematisch die Zahn- gesundheit der Hilfsschüler, „der Menschheit ganzer Jammer“ 6 . Von den 131 von ihm untersuchten Mädchen und Jungen hatten nur zehn Kinder ein vollständiges und gesundes Gebiss, nur 25 besaßen eine eigene Zahn- bürste. Zudem war fast ein Drittel der untersuchten Kinder rachitisch. Nach eigener Aussage überzeugte Michel- sohn viele der Hilfsschüler, in seine Praxis zu kommen und stellte lediglich seine Materialkosten in Rechnung. Zudem zog er zum Vergleich seine Untersuchungsergebnisse an einer höheren Mädchenschule in Berlin he- ran: Dort besaßen alle eine Zahnbürste und gingen zwei- bis viermal jährlich zum Zahnarzt. Entsprechend besser war unter den Schülerinnen dort die Mundgesundheit. Mit diesem Dissertationsthema befand sich Michelsohn im Zentrum der sozialmedizinischen Forschung und Praxis. 7 1921 war ein erstes Lehrbuch der sozialen Zahnheilkunde erschienen, dass dem „Zahnarzt in der Schulzahn- pflege“ das weitaus größte Kapitel wid- mete. 8 Ein Blick auf die Verfasser zeigt, dass die „Durchdringung aller Sonder- gebiete der Medizin und der Hygiene mit sozialwissenschaftlichen Gedan- kengängen“, wie sie Alfred Grotjahn im Geleitwort forderte, vor allem sozialdemokratisch beziehungsweis sozialistisch geprägte Fachvertreter ansprach, von denen viele jüdischen Glaubens waren oder jüdische Wur- zeln hatten. Nur an einigen wenigen Universitäten boten sich in dieser Zeit für sie Mög- lichkeiten einer akademischen Karriere. In Bonn vertrat der „Wegbereiter der Schulzahnpflege“ Alfred Kantorowicz 9 das „Bonner System“, in dem Unter- suchung und Behandlung in der Hand von haupt- oder nebenamtlichen Schulzahnärzten lagen, 10 in Berlin er- hielt Alfred Cohn 1919 lediglich einen Lehrauftrag für Soziale Zahnheilkunde. Auch Michelsohn stand politisch sozialdemokratischen Positionen nahe. 11 Die soziale Zahnheilkunde und ihre Etablierung in den Institutionen der öffentlichen Gesundheitsversor- gung kann als Erweiterung des Berufs- felds von akademisch ausgebildeten Zahnärzten in der Weimarer Republik verstanden werden, was in der For- schung als eine Grundlage der Pro- fessionalisierung der Zahnärzteschaft gewertet wird. 12 GEDICHTE GEGEN DEN FASCHISMUS Dem Zahnarzt stellte Georg Michel- sohn immer auch den Dichter Eli Elkana zur Seite: Schon ein Jahr vor seiner Dissertation hatte Michelsohn einen ersten Gedichtband mit dem Titel „Sonette“ (Abbildung 1) ver- öffentlicht. Diese sind stark von tra- ditionellem jüdischem Bewusstsein beeinflusst und biografisch geprägt. Trotz mehrfachen Bezugs auf das „Buch der Väter“ vermitteln sie teil- weise aber auch große Sinnen- und Lebensfreude. 13 1 Grossert, 1995, 7–8, 28–32; 2 Madigan/Reuveni, 2019; 3 Müller, 1997; 4 Umehara, 2009, 163–171; 5 Grossert, 1995, S. 12; 6 Michelsohn, 1923, Diss. med. dent; 7 Ritter, 1924, S. 385–392; 8 Kantorowicz, 1921, 171–236; 9 Groß, 2018; 10 Römer, 2004, 20; 11 Grossert, 1995, S. 24; 12 Groß, 1994, S. 306–321; Groß, 2006, S. 151–159; Foto: Thorsten Halling, mit freundlicher Genehmigung Abb. 1: Eli Elkana, Sonette, 3. Aufl. 1923. TÄTER UND VERFOLGTE Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 15-16/2020 Hermann Euler und Hermann Nelki, in der zm 18/2020 Hans Fliege und Erich Knoche. | 71
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