Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 110, Nr. 15-16, 16.8.2020, (1468) INTERVIEW MIT PROF. GERD ANTES ÜBER RAUBZEITSCHRIFTEN „Viele der Geprellten verdienen dieses Prädikat nicht“ Mit der Open Access Bewegung entstand in den 1990er Jahren auch ein Trend, der zur Entwicklung von Raubzeit- schriften und -Verlagen führte. Heute ist das Problem weit verbreitet, sagt Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes, ehemaliger Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg. Er veröffentlichte jüngst einen Artikel zum Thema und erklärt, welche Gefahren heute von unseriösen Verlagen für den Wissenschaftsbetrieb ausgehen, welchen Stellenwert das Phänomen für die Zahnmedizin hat und warum selbst namhafte Wissenschaftler auf die betrügerischen Geschäftemacher hereinfallen. Herr Prof. Antes, Sie haben sich dem Phänomen Raubzeitschriften – Englisch: predatory journals – wissenschaftlich gewidmet. Worum geht es dabei? Prof Gerd Antes : Wir erleben seit geraumer Zeit einen fun- damentalen Wechsel der finanziellen Basis und des Bezahl- systems wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Forschung und Wissenschaft leben von der Kommunikation der Ergeb- nisse. Traditionell wurden wissenschaftliche Projekte durch einen Artikel abgeschlossen, der möglichst hochwertigen Zeitschriften zur Veröffentlichung angeboten wurde. Bei grundsätzlichem Interesse wurde das Manuskript im Peer Review Prozess – oft in mehreren Schleifen – zur Publikation gebracht. Finanziert wurde dieser Weg durch Bibliotheken, wissenschaftliche Institutionen und Einzelpersonen durch Abonnements oder Abnahme einzelner Artikel. Damit waren finanzschwache Leser immer wieder vom Zugang ausgeschlossen. Das war der Auslöser für eine Entwicklung unter dem Schlagwort Open Access, deren oberstes Ziel freier Lesezugang für alle war. Erreicht wurde das durch die Verlagerung der Bezahlung auf die Autoren, so dass die Veröffentlichungen frei angeboten werden konnten. Wäh- rend seriöse Anbieter den Begutachtungsprozess auf gleich- wertigem Niveau aufrechterhielten, drängten neue Anbieter, sogenannte Raubzeitschriften oder auch -verlage, auf den Markt, die ausnutzten, dass mit Bezahlung durch Autoren die Veröffentlichung gekauft werden kann. Angebote mit Niedrigstpreisen für Veröffentlichungen sind täglich in der E-Mail-Box von Wissenschaftlern zu finden und belegen einen beispiellosen Verfall von Qualität und Aufgabe etablierter wissenschaftlicher Prinzipien. Seit wann sind Raubzeitschriften ein ernst zu nehmendes Problem? Ein präziser Zeitpunkt ist schwer zu benennen. Klar ist: Die Aufdeckung der Praxis von Raubzeitschriften ist untrennbar mit dem Namen Jeffrey Beall verbunden. Der US-amerika- nische Bibliothekar veröffentlichte 2010 zum ersten Mal ei- ne Übersicht über Raubzeitschriften („predatory journals“) und prägte damit auch den heute gebräuchlichen Begriff. Diese Übersicht spielte als „Bealls Liste“ in den folgenden Jahren eine entscheidende Rolle. Im Zusammenhang mit der Open Access Bewegung kann man bis zu Beginn der 1990er Jahre zurückgehen, um dort die Ursprünge der positiven Motivation zu finden, For- schung und Wissenschaft mit ihren Ergebnissen frei zu- gänglich zu machen. Der gesamte Prozess bis hin zu den ge- genwärtigen massiven Verformungen erstreckt sich also tatsächlich bereits über dreißig Jahre. Welchen Stellenwert haben Raubzeitschriften für die Disziplin Zahnmedizin? Die Disziplin Zahnmedizin ist genau wie die Fächer der Humanmedizin betroffen von den täglichen E-Mails, mit denen der gesamte medizinische Bereich überschwemmt wird – das heißt, auch Zahnmediziner können verleitet wer- den, in diesen zweifelhaften Journalen zu publizieren. Schlimmer noch, auch die Zahnmedizin kann sich durch Artikel fehlinformieren lassen, weil z. B. für die Formulie- rung von Leitlinien Studien aus Raubzeitschriften herange- zogen werden, ohne dass die Quelle als Raubzeitschrift Foto: Universitätsklinikum Freiburg Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes ist ehemaliger Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums (DCZ) und Honorarprofessor in Freiburg. Cochrane ist ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten, das sich an den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin orientiert. 10 | POLITIK

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