Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 110, Nr. 15-16, 16.8.2020, (1526) ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Hermann Nelki – Der Weg eines patriotisch gesinnten jüdischen Zahnarztes Matthis Krischel, Enno Schwanke, Thorsten Halling Hermann Nelki (1863–1941) erlernte in Berlin den Beruf des Dentisten, studierte dann in Halle Zahnmedizin und pro- movierte mit 59 Jahren in Königsberg. Seine Familie gehörte zu den vielen patriotisch gesinnten deutschen Juden, die trotz antisemitischer Anfeindungen schon während des Kaiserreichs bis 1933 an eine Zukunft in Deutschland glaubten. Bereits im März 1933 flüchteten Nelki und seine Frau nach Brüssel, später siedelten sie wie auch ihre Kinder nach London über. Die Familienbiografie 1 seines Sohns Wolfgang erlaubt viele Einblicke in das Schicksal der Familie. 2 H ermann Nelki wurde am 17. Ja- nuar 1863 als jüngstes von acht Kindern in Berlin geboren. Sein Vater Jakob arbeitete als reisender Hüh- neraugenoperateur. Kurz nach Her- manns 16. Geburtstag verließ der Vater die Familie, dennoch scheint seine medizinische Betätigung die Kinder wesentlich beeinflusst zu haben. Zwei seiner Söhne ließen sich als Dentisten in Berlin nieder. SEIN ZIEL WAR EIN UNIVERSITÄRER ABSCHLUSS Da ein zahnärztliches Studium zu die- sem Zeitpunkt noch nicht durchge- hend existierte, entschloss sich auch Hermann Nelki diesem Beruf nachzu- gehen und ging bei seinen Brüdern in die Ausbildung. 3 Er strebte aber einen universitären Abschluss an. Nachdem die medizinische Fakultät ihm eine Ab- sage erteilt hatte, immatrikulierte er sich 1883 an der Berliner Universität für Philosophie. Das Studium finan- zierte er durch seine Dentistentätigkeit Euler nicht. Auch die fatale NS- Gesundheitspolitik wird nicht thema- tisiert – bis auf eine irritierende Bemer- kung zur Euthanasie. So skizziert Euler folgenden Fall: „Ein älterer Mann, un- heilbar geisteskrank, ja nicht einmal besserungsfähig, für seine Familie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sonst für die Zukunft einzelner Famili- enangehöriger eine außerordentliche Belastung, bekommt ein inoperables Karzinom. Kann in diesem Falle die Euthanasie nicht wirklich das werden, was ihr Wortlaut sagt?“ 26 Besagte Bemerkungen erinnern in In- halt und Wortwahl („nicht besserungs- fähig“, „wirtschaftliche Belastung“) noch auffällig an die NS-Terminologie („Ballastexistenzen“) und entsprechen- de Argumentationsmuster. VERFÄLSCHTE AUTOBIOGRAFIE HATTE WIRKUNG Eulers geschönte Autobiografie zeigte Wirkung: So äußerte Maretzky 1961 in einem Nachruf auf Euler: „Es war ein besonderes Glück, dass er, der dem Na- tionalsozialismus seinem ganzen We- sen nach innerlich völlig fern stand, sich bewegen ließ, die Stellung als Lei- ter der wissenschaftlichen Organisati- on auch in den Jahren fest in der Hand zu halten, in denen die Wissen- schaft vielfach politisch bevormundet wurde. Es wurde dadurch der deut- schen Zahnheilkunde und ihrem inter- nationalen Ansehen viel Schaden er- spart.“ 27 Wie wirkmächtig Eulers Selbstdarstel- lung war, belegte 1969 eine Doktorar- beit zu Eulers Leben und Werk: Wasser- fuhr (1969) erwähnt dessen NS-Verstrickung mit keinem Wort, sondern schildert Euler als Opfer alli- ierter Besatzungsbehörden: „Die neuen Machthaber hatten ihm nicht nur sein Institut und sein kostbarstes Eigentum, die Bibliothek, genommen, sondern sie strichen ihm auch noch jegliche fi- nanzielle Unterstützung [...]. Krank und völlig mittellos mußte Euler bis zum Sommer 1946 unter menschen- unwürdigen Bedingungen leben“. 28 Erst ein kritischer DZZ-Beitrag von Sta- ehle/Eckart (2005) über Eulers Rolle im „Dritten Reich“ ließ die Zahnärzte- schaft aufhorchen 29 – und führte zur Entscheidung des damaligen DGZMK- Vorstands, ein Fachgutachten zu Euler einzuholen. Dort hieß es: „Wer sich [...] für die Beibehaltung des Namens ‚ Hermann-Euler-Medaille‘ einsetzt, kann sich nicht mehr auf Unwissen- heit berufen. Euler hat sich im Dritten Reich ohne erkennbaren Zwang in die erste Reihe stellen lassen. Er hat sich dem NS-Regime angedient, das System im Rahmen seines Funktionsbereichs gestützt, mitrepräsentiert und dadurch letztlich zu dessen Hoffähigkeit beige- tragen. Auch nach dem Ende der NS- Zeit ließ er selbstkritische Äußerungen vermissen“. 30 2007 wurde die Euler-Medaille in „DGZMK-Medaille“ umbenannt. 31 \ 26 Euler (1949), 24; 27 Maretzky (1961), 459f.; 28 Wasserfuhr (1969), 7f.; 29 Staehle/Eckart (2005), 677–694; 30 Groß (2005), 5; 31 Groß/Schäfer (2009), 254. 1 Nelki, Wolfgang, London 1988; 2 Vgl. auch unterschiedliche Dokumente aus dem Nachlass der Familie Nelki in der Wiener Holocaust Library, London. 3 Kirchhoff, Wolfgang, in: VDZM (Hrsg.), der artikulator Sonderheft 2, Bonn 2002, S. 57. 68 | GESELLSCHAFT

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