Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 110, Nr. 15-16, 16.8.2020, (1527) in einer Gemeinschaftspraxis mit sei- nen Brüdern in der Potsdamer Straße 43, obwohl die Universitäten ein Teil- zeitstudium eigentlich verboten. 4 In dieser Zeit lernte Nelki seine spätere Frau, die sephardische Jüdin Ernestine Russo kennen, die er 1890 in einer Wernigeroder Synagoge heiratete. Bis dahin hatte niemand aus Nelkis Fami- lie in einer Synagoge geheiratet, die Familie war eine vollständig assimilier- te jüdische Familie, die sich in erster Linie als Preußen verstand. 1892 wechselte Hermann Nelki an die Universität Halle und arbeitete zu- dem als Assistent des bekannten Zahn- arztes Ludwig Heinrich Holländer (1833–1897), der ab 1883 die erste Universitätszahnklinik in Halle leitete. In Halle absolvierte Nelki auch sein zahnärztliches Studium. Da er bereits wesentliche Vorkurse in der Berliner Anatomie besucht hatte, konnte er 1894 sein Examen ablegen und war damit der erste in der Familie mit einer medizinischen Approbation. 5 1900 zog er mit seiner Frau und den Kindern 1900 nach Spandau, wo er ei- ne Praxis in der Nähe der Königlichen Geschützgießerei gründete. 6 In der oberen Etage des Hauses lebte die Fa- milie, im Erdgeschoss befand sich die Praxis inklusive eines Laboratoriums, in dem dentistischer und zahnärztli- cher Nachwuchs ausgebildet werden konnte. 7 Zu den bekanntesten Prakti- kanten zählte Alfred Kantorowicz, der spätere Lehrstuhlinhaber für Zahn- heilkunde in Bonn, Begründer der Sozialen Zahnheilkunde und ebenfalls Opfer der NS-Ausgrenzungs- und Ver- folgungspolitik. 8 DIE FAMILIE BLIEB PATRIOTISCH TROTZ ANTISEMITISCHER HETZE Die Nähe zur Königlichen Geschütz- gießerei verschaffte Nelki einen großen Patientenstamm und ökonomischen Erfolg. Die Familie war Anhänger der Nationalliberalen Partei, engagierte sich ehrenamtlich und ermöglichte den Kindern den Besuch der besten Schulen. 9 Trotz dieser oder vielleicht gerade wegen dieser steten bürgerli- chen Karriere wurde Nelki zu Beginn des Jahres 1910 Ziel antisemitischer Anfeindungen. Unbekannte befestig- ten am Schwarzen Brett der Gießerei den Aufruf „Geht nicht zum jüdischen Zahnarzt Nelki“. Obgleich die Arbeiter- schaft im Kaiserreich zu der Gruppe gehörte, die am wenigsten anfällig für antisemitisches Gedankengut war, 10 fürchtete Nelki um das Wohlergehen seiner Familie. Die Familie verließ Spandau und zog nach Schöneberg. Der antisemitische Affront minderte jedoch nicht ihr Selbstverständnis als deutsche patriotische Familie. Nur wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Hermann Nel- ki freiwillig zum Kriegsdienst. Auf- grund seines Alters von 51 Jahren wurde er jedoch nicht für den Dienst an der Front eingeteilt, sondern über- nahm die Armee-Zahnklinik in Fürs- tenwalde bei Berlin. Sein Sohn Fritz, der 1912 ebenfalls die Approbation als Zahnarzt und 1914 die Approbation als Humanmediziner erhalten hatte, war an der russischen Front eingesetzt und erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klas- se. 11 Sohn Otto war ein glühender Patriot, der bis weit in die Weimarer Republik antifranzösische Gedichte und nationalistische Pamphlete publi- zierte. Er war zudem Mitglied der Bur- schenschaft Kartell Convent – Verbin- dung deutscher Studenten jüdischen Glaubens. Diese verband deutschen Nationalismus mit jüdischer Kulturzu- gehörigkeit. 12 Da die 1918 wiedereröffnete Praxis auf- grund der angespannten wirtschaftli- chen Lage nicht gut lief, fuhr Her- mann Nelki per Fahrrad von Dorf zu Dorf durch Brandenburg, um seine zahnärztlichen Dienste anzubieten. Mitunter war er mit seinem Sohn Fritz auch in Badeorten und Hotels aktiv. 13 Mit zunehmender Inflation annoncier- te die Familie zahnärztliche Behand- lungen gegen Handwerksarbeiten in Praxis und Haus. In dieser Zeit promo- vierte Hermann Nelki im Alter von 59 Jahren an der Universität Königsberg „Über tabische Nekrose des Unterkie- fers“, 14 das heißt, zu den Auswirkun- gen der Syphilis. PER RAD FUHR NELKI VON DORF ZU DORF Die wirtschaftliche Situation der Fami- lie sollte sich erst zu Beginn der 1930er Jahre wieder bessern. 1931 entstand ein familieneigenes Ärztehaus in der Augsburger Straße/ Ecke Nürnberger Straße im Stadtteil Charlottenburg. Hier waren auch Fritz als Facharzt für Mund- und Kieferkrankheiten und Otto als HNO-Arzt tätig. Ab 1932 ver- sorgte Hermann Nelki im Auftrag des Bezirks-Wohlfahrts- und Jugendamts Neukölln bedürftige Patienten. Wolf- gang Kirchhoff würdigte dieses sozial- politische Wirken erstmals 2002. 15 Dass die Familie Nelki zu Beginn der 1930er Jahre ein hohes Ansehen genoss, zeigte sich an den Presseberichten aus TÄTER UND VERFOLGTE Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 18 erfahren Sie mehr über Hans Fliege und Erich Knoche, in der zm 18 über Werner Rohde und Julius Misch. 4 Nelki, Wolfgang, London 1988, S. 10.; 5 Personalien, in: Correspondenz-Blatt Für Zahnärzte, dreiundzwanzigster Jahrgang 1894, S. 374.; 6 1890 wurde sein Sohn Fritz Nelki, 1892 die Tochter Alice Nelki, 1899 Otto Nelki, 1901 Heinrich Nelki und 1911 Wolfgang Nelki geboren. Der Sohn Hans Nelki (1899–1899) und seine Tochter Ilse Nelki (1907–1917) verstarben noch im Kindesalter.; 7 Kirchhoff, Wolfgang, Familienchronik, a. a. O., S. 57. 8 Groß D (2018) Zahnärztliche Mitteilungen 108 (7), 734–735; 9 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 31.; 10 Vgl. Gräfe, Thomas, Norderstadt 2010. 11 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 40.; 12 Zur Geschichte des K.C., Vgl. Rürup, Miriam, Ehrensache. Göttingen 2008, allg., hier S. 93.; 13 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 48.; 14 Nelki (1922); 15 Kirchhoff, Wolfgang, in: VDZM (Hrsg.), der artikulator Sonderheft 2, Bonn 2002, S. #57. Quelle: Leo Baeck Institute, New York, mit freundlicher Genehmigung Hermann und Ernestine Nelki bei ihrem 50. Hochzeitstag (1940) | 69

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