Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 110, Nr. 15-16, 16.8.2020, (1528) Anlass des 70. Geburtstags Hermann Nelkis im Januar 1933. 16 Die Zeitung „Der Westen“ schrieb: „Er hat sich sowohl als Zahnarzt wie als Mensch und Wohltäter in Charlottenburg und weit darüber hinaus einen Namen ge- macht.“ 17 Wie fragil solche Beurteilun- gen am Vorabend der nationalsozialis- tischen Machtübernahme waren, sollte sich nur einige Monate später zeigen. AUSGRENZUNG, VERFOLGUNG UND VERTREIBUNG NACH 1933 Am 15. April 1933 hieß es in einem Schreiben des Bezirksamtes Neukölln an Hermann Nelki: Die „weitere Zulas- sung zur Behandlung zahnkranker Un- terstützungsempfänger wird davon ab- hängig gemacht, daß [er] arischer Abstammung [sei]“. 18 Bereits zwei Wochen zuvor war er mit seiner Frau Ernestine und seinem Sohn Heinrich nach Brüssel geflüchtet. Seit Januar 1933 war Heinrich als Mitglied des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold mehr- fach von SA-Männern zusammenge- schlagen worden. In der Nacht des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933 hatte Heinrich aus Angst vor weiteren Attacken versucht, sich das Leben zu nehmen. 19 Otto Nelki arbeitete nebenamtlich als HNO-Assistenzarzt im Kreuzberger Ur- ban-Krankenhaus und wurde hier mit anderen jüdischen Ärzten am 20. März von einem SA-Trupp verhaftet und erst wieder frei gelassen, nachdem er seine Entlassung aufgrund „nichtarischer“ Herkunft unterschrieb. 20 Auch der jüngste Sohn, Wolfgang, war als über- zeugter Kommunist stark gefährdet. Der frühe Terror gegen einzelne Fami- lienmitglieder und die Aufrufe zum „Aprilboykott“ der Nationalsozialisten ab dem 29. März bestärkten die Fami- lie darin, Deutschland zu verlassen und zunächst zu entfernten Verwand- ten nach Brüssel zu ziehen. Sie steht damit stellvertretend für viele andere deutsch-jüdische Familien, die sich in den ersten Monaten nach der natio- nalsozialistischen Machtübernahme für eine Emigration entschieden. 21 Eher untypisch ist das fortgeschrittene Alter der Nelkis. Als sie um Mitter- nacht am 30. März den Zug in Berlin bestiegen, war Hermann Nelki bereits 70 und seine Frau Ernestine 66 Jahre alt. In der Erinnerung seines Sohns Wolfgang verabschiedete sich sein Vater mit den Worten „Ausland heißt Elend“ 22 und versprach seinen Kin- dern, dass er bald wiederkommen wer- de – ein Versprechen, das er jedoch nicht einlösen konnte. 23 „AUSLAND HEIßT ELEND“: MIT 70 IN DIE FREMDE Am 7. April folgte Wolfgang seinen El- tern nach Brüssel. Fritz durfte aufgrund seiner Fronttätigkeit im Ersten Welt- krieg zunächst weiter praktizieren, ver- kaufte die Familienpraxis aber 1934 für 10.000 Reichsmark an einen zu diesem Zeitpunkt noch inhaftierten Zahnarzt, der SPD-Mitglied war. 24 1934 wurde er von der Gestapo vorgeladen und nach Verbleib und dem Besitz seiner Eltern und der beiden Brüder befragt. Die kurzzeitige Freilassung zur Beibrin- gung seines Passes nutzte Fritz , um Deutschland ebenfalls in Richtung Brüssel zu verlassen. Ende 1934 zog er weiter nach London, erhielt im De- zember 1934 eine Zulassung als Zahn- arzt und eröffnete eine Zahnarztpraxis in der Baker Street. 25 Otto emigrierte 1934 direkt nach London. Trotz seiner jahrelangen Tätigkeit als HNO-Arzt musste er aufgrund von Zulassungsbe- schränkungen zwei Jahre studieren und erhielt erst am 30. Juli 1935 die Zulassung als Mediziner. Alice, die ein- zige Tochter Hermann Nelkis, blieb bis 1937 als Dentistin unter dem Namen ihres Mannes (Ullendorf) in Deutsch- land. Von einer Nachbarin als Jüdin denunziert, flüchtete sie über Umwege ebenfalls nach London, wo ihr Fritz beim Aufbau eines dentistischen Labo- ratoriums half. 26 Hermann Nelki arbeitete bis 1937 ille- gal als Zahnarzt in Brüssel. 1938 be- schloss die Familie, sich in London wieder zu vereinen. Nach kurzzeitiger englischer Internierung 1941 positio- nierten sich die Nelkis im Exil auch politisch. 27 Sie waren Mitglieder der in London zugelassenen Deutschen Gewerkschaft und Anhänger der eng- lischen Unabhängigen Arbeiterpartei. Trotz der zunehmenden Integration in der neuen Heimat und trotz der Aus- bürgerung durch die Nationalsozialis- ten hielten die meisten geflüchteten Familienmitglieder bis zu ihrem Tod an der deutschen Staatsbürgerschaft fest. Die Einbürgerung beantragte nur der jüngste Sohn Wolfgang, der in England Zahnmedizin studierte. Nach dem Krieg schlug er mehrere Angebote aus, nach Ostberlin zurückzukehren. „The Story of my Family“ – eine Fami- liengeschichte, von ihm 1988 verfasst, spiegelt nicht nur die Folgen der natio- nalsozialistischen Ausgrenzungspolitik, sondern auch die Schwierigkeiten des Neuanfangs im Exil wider. Insgesamt umfasste der von ihm beleuchtete Familienkreis 37 Personen, die als „nichtarisch“ klassifiziert wurden. 27 von ihnen flüchteten nach England oder Südamerika, vier wurden in den Vernichtungslagern getötet und sechs überlebten den Holocaust in Deutschland. 28 \ DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat 16 Dr. Hermann Nelki 70 Jahre, in: Volksblatt für Spandau und das Havelland, vom 14. Januar 1933.; 17 Der Westen (Charlottenburg), vom 16. Januar 1933.; 18 Schreiben Bezirksamt Neukölln, Bezirks-Wohlfahrts- und Jugendamt, abgedruckt in: Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 65.; 19 Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 48. 20 ebd.; 21 Günther, Pflug, Frankfurt a. M. 1985.; 22 Elend leitet sich aus dem althochdeutschen el lenti (die Fremden) ab, weshalb es sich hierbei um eine Art deutsches Wortspiel handelt.; 23 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 48.; 24 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 81.; 25 Vgl. ebd., S. 82.; 26 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 83.; 27 Zur Internierung und Klassifizierung deutscher und jüdischer Exilanten. Vgl. Brinson, Charmian, in: Häntzschel, Hiltrud u.a. (Hrsg.), Exil im Krieg 1939–1945, Göttingen 2016, S. 57ff.; 28 Vgl. Nelki, Wolfgang, The Story, a. a. O., S. 108. 70 | GESELLSCHAFT

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