Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17
zm 110, Nr. 17, 1.9.2020, (1577) Dort sahen sie Prothesen, die 24 Stunden im Mund blieben, ohne je gereinigt worden zu sein, etliche entzündete Druckstellen. Auch unbehandelte Parodontopathien und Sekundärkaries waren keine Seltenheit. „Der Mund war Terra incognita“, bestätigt der KZBV Vorsit- zende Dr. Wolfgang Eßer, der das Konzept zusammen mit dem Vizepräsidenten der BZÄK, Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, maßgeblich gestaltet und durchgsetzt hat. Bei der Arbeit im Heim hieß es, improvieren: Behandlungsstühle, geschweige denn eigene Räume? Fehlanzeige! Die Zahnärzte brachten sich ihre Instrumente selber mit, bastelten sich Vorrichtungen zusammen und zweckentfremdeten die vorhandene Ein- richtung – Tabletts, das Bett, Tische und normale Stühle –, um wenigstens die Notfallversorgung zu gewährleisten. Politik und Krankenkassen sahen trotzdem lange Zeit keinen Handlungsbedarf. Einige erinnern sich vielleicht an die Reaktion eines ehemaligen DAK-Chefs , der der Zahnärzteschaft unterstellte, sie habe das AuB-Konzept nur erfunden, um sich die Taschen vollzumachen. EIN MEILENSTEIN AUF DEM WEG: PARAGRAF 22A Eine Dekade ist seitdem vergangen, viel wurde in dieser Zeit erreicht. Als Erstes das Umdenken, dass die zahnmedizinische Versorgung alter, kranker und schwacher Menschen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist – und nicht die eines einzelnen Berufsstands, der diese Arbeit ehrenamtlich gar nicht alleine schultern kann. Die Pflegebedürftigen waren der Situation im Heim schließ- lich zumeist hilflos ausgeliefert: Hatten sie Schmerzen, konnten sie sich oftmals nicht bemerkbar machen. Sie mussten zurechtkommen – ohne eine Untersuchung der Mundgesundheit und ohne regelmäßige Zahnpflege. Mit den Paragrafen 87 2i (2012) und 2j (2014) wurde im Rahmen der aufsuchenden zahnmedizinischen Betreuung von Pflegebedürftigen dieser Missstand beseitigt. Das heißt, zuerst wurde der kurative Teil verankert. Mit § 22a SGB V folgte der präventive Teil. Ein Meilenstein. Seit dem ersten Juli 2018 haben Menschen mit Pflege- bedürftigkeit und Behinderung erstmals Anspruch auf präventive Versorgungsleistungen sowie zusätzliche zahn- ärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Kranken- versicherung. Der GKV-Leistungskatalog umfasst sechs Maß- nahmen. Diese sehen vor, \ dass der Mundgesundheitsstatus erhoben, \ ein Plan zur individuellen Mund- und Prothesenpflege erstellt und \ über die Bedeutung der Mundhygiene aufgeklärt wird sowie \ dass Maßnahmen zur Erhaltung der Mundgesundheit durchgeführt \ und einmal im Kalenderhalbjahr harte Zahnbeläge entfernt werden. \ Pflege- oder Unterstützungspersonen sollen in die Auf- klärung und die Erstellung des Pflegeplans einbezogen werden. STATEMENT DR. EßER WIR MÜSSEN DIE VERSORGUNGS- LÖSUNGEN WEITER AUSBAUEN! Das Konzept „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ aus dem Jahr 2010 markiert für ältere Menschen, Pflegebedürftige und Menschen mit Beeinträchtigung einen versorgungspolitischen Meilenstein. Zugleich ist es der Beginn einer echten Erfolgs- geschichte für Zahnärztinnen, Zahnärzte und ihre Praxisteams, die diese vulnerable Patientengruppe mit viel Aufwand und persönlichem Einsatz betreuen. Gemeinsam hat die Zahnärzte- schaft damals wissenschaftlich abgesicherte Vorschläge unter- breitet, um die Mundgesundheit der Betroffenen systematisch zu verbessern. Neben den regelhaften Vorsorgeuntersuchungen können Menschen mit Pflegebedarf oder einer Beeinträchtigung seit 2018 zusätzliche präventive zahnärztliche Leistungen be- anspruchen, die von den gesetzlichen Krankenkassen einmal im Kalenderhalbjahr übernommen werden. Dies ist ein großer Erfolg für die KZBV. Die Leistungen sollen dazu beitragen, das Risiko für Karies-, Parodontal- und Mundschleimhauterkrankun- gen zu senken sowie die Mundgesundheit der Betroffenen zu erhalten und zu verbessern. Auch die Möglichkeiten von Kooperationsverträgen mit Pflegeeinrichtungen und der auf- suchenden Versorgung zeigen, wie erfolgreich unser Konzept in der Versorgung angekommen ist: Mittlerweile 5.400 be- stehende Kooperationsverträge und zuletzt 979.500 Besuche in der aufsuchenden Versorgung unterstreichen beispielhaft, was Zahnärztinnen und Zahnärzte bereits heute leisten. Ab- gerundet wird das Leistungsspektrum durch die Möglichkeiten der Krankenfahrten für Patienten, die nicht mehr in der Lage sind, eigenständig eine Praxis aufzusuchen. Unabhängig davon sind wir mehr denn je gefordert, uns als Heilberuf dem andauernden politischen, gesellschaftlichen und zahnmedizinisch-fachlichen Diskurs im Bereich Pflege und Betreuung zu stellen. Auch zehn Jahre nach dem AuB-Konzept gilt es, Versorgungslösungen auszubauen, um den Heraus- forderungen für pflegebedürftige Patienten gerecht zu werden. Der Anspruch des Berufsstands ist dabei klar formuliert: Wir wollen die Mundgesundheit ausnahmslos aller Menschen lebenslang fördern und verbessern. Besonders ältere Menschen, Pflegebedürftige und Menschen mit Beeinträchtigung benötigen dabei unsere Unterstützung. Diesen Gestaltungsanspruch haben wir auch anlässlich eines Workshops zur Gesundheits- kompetenz vulnerabler Gruppen betont, den die KZBV im Rahmen einer entsprechenden Fachtagung des BMG im Februar 2020 federführend mitgestaltet hat. Dr. Wolfgang Eßer ist Vorsitzender des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. | 15
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