Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 18

zm 110, Nr. 18, 16.9.2020, (1711) Fliege war zweifellos ein glühender An- hänger der NS-Ideologie. Bereits 1919 wurde er Mitglied im Alldeutschen Verband, der als militaristisch, nationa- listisch und antisemitisch galt. 1929 – und somit einige Jahre vor Hitlers Machtübernahme – trat er dann in die NSDAP ein (Aufnahme 1.11.1929, passagerer Austritt 1.7.1930, Wieder- eintritt 1.5.1932). Seine niedrige Mit- gliedsnummer (Nr. 169.105) dokumen- tiert, dass er den frühen Parteigängern zuzurechnen war. Bereits 1930 schloss er sich der SA an. 11 Kurz nach Fliege wurde auch dessen Ehefrau Susanne NSDAP-Mitglied (Eintritt 1.4.1930; Nr. 223.009). 12 1932 traten der ur- sprünglich evangelische Fliege und seine Frau aus der Kirche aus und bezeichneten sich fortan gemäß der NS-Terminologie als „gottgläubig“. Entsprechend vermerkte er in den Akten: „Ich bin mit meiner Frau und meinen drei Kindern aus der Kirche ausgeschieden, die Kinder wurden gottgläubig erzogen“. 13 SEIN NS-NETZWERK ERSETZTE DIE QUALIFIKATION 1933 wurde Fliege bereits Stadt- verordneter der NSDAP in Marburg. Er war zudem einer von insgesamt vier Dozenten für Zahnheilkunde, die am 11. November 1933 – also vor seiner Berufung auf den Marburger Lehrstuhl – das „Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler“ unterzeichneten. 14 Fliege war überdies Mitglied im NS-Lehrerbund, im NS- Ärztebund, im NS-Dozentenbund und in der NS-Volkswohlfahrt. 1939 wechselte er von der SA zur einfluss- reicheren SS (Nr. 313.986), wo er zuletzt als SS-Obersturmbannführer fungierte. 15 Auch wirkte er als „Per- sonalreferent im Stab der SS Ober- abschnitt Fulda-Werra“. 16 Flieges politische Bekenntnisse sollten sich auszahlen: Seine Hausberufung zum außerordentlichen Professor (Extraordinarius) und die zeitnahe Be- förderung zum ordentlichen Professor (Ordinarius) am 21. Juli 1934 erfolgten trotz fraglicher fachlicher Qualifikation auf Druck maßgeblicher NS-Kreise. Es handelte sich um eine „rein politisch motivierte Lehrstuhlbesetzung“, bei der die „wissenschaftliche Qualifikation [...] im Endeffekt keine Rolle“ spielte. 17 Dabei lässt sich nachweisen, dass Fliege auf ein funktionierendes Netzwerk ein- flussreicher Nationalsozialisten zurück- greifen konnte: Dazu gehörte Flieges Schwager, der Marburger Zahnarzt Friedrich Brammer, der selbst bis zu seiner Niederlassung 1931 am Marbur- ger Institut als zahnärztlicher Hilfs- lehrer tätig gewesen war und somit bis dahin die zweithöchste Stellung nach dem Direktor Seidel eingenommen hatte. Brammer fungierte in Marburg als nationalsozialistischer Stadtrat, stand als SS-Offizier in persönlicher Verbindung zu Karl Weinrich, dem Gauleiter von Kurhessen und über- zeugte diesen, „daß als Nachfolger Seidels einzig und allein Fliege in Frage käme“. 18 Zu Flieges und Brammers politischem Netzwerk gehörten neben Weinrich Reichsdozentenführer Karl Pieper, Brammers Praxispartner Karl Schaum- löffel, der zugleich als politischer Beauftragter des Zahnärzteführers in Großhessen fungierte, und Prinz Philipp von Hessen, NS-Politiker und Oberpräsident der preußischen Provinz Hessen-Nassau: Sie alle forderten – gegen den initialen Widerstand des Dekans der Marburger Medizinischen Fakultät Max Baur – die Berufung Flieges auf das Ordinariat und Direkto- rat des Zahnärztlichen Instituts der Universität Marburg und setzten sich schlussendlich durch. 19 VORLESUNGEN HIELT ER IN DER „SCHWARZEN UNIFORM“ Bereits im Juni 1934 wurde Fliege NSDAP-Vertrauensmann an der Medi- zinischen Fakultät Marburg. Dabei handelte es sich um eine „Schlüssel- position“, in der er auf den „Karriere- verlauf seiner Kollegen“ durch teils diskreditierende politische Einschät- zungen Einfluss nahm. 20 1936 wurde Fliege von Leopold Zimmerl sogar als künftiger Rektor der Universität Marburg in Vorschlag gebracht – das Rektorat ging schließlich jedoch an Zimmerl selbst. 21 Fliege war dafür be- kannt, Vorlesungen in der „schwarzen Uniform“ der „SS-Offiziere“ zu halten und zudem einen langen Säbel zu tragen. 22 Dank seiner politischen Kon- takte gelang ihm im „Dritten Reich“ ein erheblicher Ausbau des Marburger Zahnärztlichen Instituts. So wurde unter anderem ein metallografisches Laboratorium eingerichtet. 23 Nach seiner Gefangennahme 1945 wurde Fliege in Rheinbach (Bonn) und nachfolgend im Kriegsgefangenenlager Mailly d’Camp (bei Metz) interniert; zudem wurde er 1945 aus dem Hoch- PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat 11 BArch R 9361-IX/9120222; BArch R 4901/13262; GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 3 Tit. IV Nr. 39, Bd. 16; Grüttner (2004), 50; Klee (2013), 156; 12 BArch R 9361-III/45192; 13 BArch R 9361-III/45192; BArch R 9361-III/524458; 14 Bekenntnis der Professoren (1933); 15 BArch R 9361-III/45192; Dienst- altersliste der Waffen-SS (1987), 157; 16 Aumüller (2001), 719; 17 Aumüller (2001), 255; 18 Aumüller (2001), 252; 19 Nagel (2000), 232–240; 20 Aumüller (2001), 147f; 21 Nagel (2000), 303, 315; 22 Wilkens (1987), 10; Lauer (1991), 153, 175; 23 Wilkens (1987), 128. TÄTER UND VERFOLGTE Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 20/2020 folgen Werner Rohde und Julius Misch, in der zm 22/2020 Karl Friedrich Schmidhuber und Ernst Hausmann. Alle bisherigen Beiträge finden Sie via QR auf zm.online.de. | 37

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