Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 18

zm 110, Nr. 18, 16.9.2020, (1712) schuldienst entlassen. Später erfolgte seine Überstellung in die Nachkriegs- lager Darmstadt beziehungsweise Lud- wigsburg, wo er bis Anfang Juli 1948 einsaß. Nach seiner Freilassung wurde Fliege als Mitläufer (Gruppe IV) ent- nazifiziert. 24 ENTNAZIFIZIERT ALS MITLÄUFER Nachdem Fliege von Juli bis Dezember 1948 arbeitslos gewesen war, konnte er ab Januar 1949 vertretungsweise die Praxis des kriegsgefangenen Zahnarztes Gottlob Alfken in Marburg führen. Im Juni 1952 gründete er eine Zahnarzt- praxis im eigenen Wohnhaus in Mar- burg, und spätestens in den 1950ern erlangte er die Zweitpromotion zum Dr. med. 25 Flieges eigentliches Ziel war allerdings die politische Rehabilitierung und die Rückkehr an die Universität. Vor diesem Hintergrund führte er ab 1951 einen langwierigen Rechtsstreit mit der Universität Marburg. Streitpunkte waren die von ihm eingeforderte Aner- kennung als (emeritierter) Ordinarius und die damit verbundenen Pensions- ansprüche. Aufgrund seiner offenkun- digen Verstrickung in den National- sozialismus konnte er seine Hochschulkarriere jedoch nicht wieder aufnehmen – Fliege gehörte damit zu insgesamt nur sieben Medizin-Pro- fessoren, die „wegen ihrer politischen Belastung nicht wieder in die Marbur- ger Fakultät“ zurückkehren durften. 26 Dagegen erreichte er mit Wirkung vom 1.12.1958 die nachträgliche Emeritie- rung durch das Hessische Ministerium, verbunden mit der Rechtsstellung und Pensionsberechtigung eines emeritier- ten Ordinarius. 27 Fliege blieb bis 1974 zahnärztlich tätig. Er verstarb am 29. Januar 1976 in Marburg. 28 Unerwähnt blieb bisher Flieges wissen- schaftliches Oeuvre. Seine Forschungs- schwerpunkte waren die zahnärztliche Lokalanästhesie, 29 Zahnretentionen, 30 die zahnärztliche Chirurgie 31 sowie Kieferbrüche 32 . Fliege hinterließ insge- samt 36 Schriften; sie entstanden von 1920 bis 1942. Keine seiner Veröffent- lichungen erwies sich als grundlegend oder gar wegweisend, und in der Ge- schichte der DGZMK spielte er keine Rolle. 33 Vergleicht man sein Werk mit dem der anderen in dieser Täter- Reihe behandelten Hochschullehrer, so finden sich Parallelen zu Heinrich Fabian 34 und Fritz Faber 35 – deutlich schlechter sind nur die spärlichen Arbeiten von Karl Pieper 36 einzuord- nen. Dagegen genossen etwa Hermann Euler 37 und Otto Loos 38 neben dem Rückhalt der NS-Verantwortlichen auch eine hohe fachliche Reputation – allerdings hatten beide ihr Ordinariat auch bereits deutlich vor 1933 erreicht. 1987 erschien dann eine stark apologe- tische, zahnmedizinische Dissertation zum Leben und Werk Flieges. Diese entstand in einer Zeitphase, in der die Widerstände zahnärztlicher Standes- politiker und Wissenschaftler gegen eine Aufarbeitung der NS-Zeit noch groß waren. 39 Zu diesen „Opponenten“ ge- hörte auch der Marburger Ordinarius Heinz Bernhardt 40 , der die besagte Doktorarbeit betreute. Darin wurde Flieges Rolle im „Dritten Reich“ ver- klärt und dieser zum leichtgläubigen Opfer stilisiert. So heißt es, Flieges politisches Engagament im „Dritten Reich“ sei seinem „Glauben“ an die „Aufrichtigkeit der nationalsozialis- tischen Zielsetzungen“ entsprungen. 41 Der Autor stützte sich bei seiner Ein- schätzung auf Zeitzeugen, die kaum als unabhängig gelten konnten: nämlich auf Flieges Söhne und dessen Witwe, die bereits vor 1933 als National- sozialistin hervorgetreten war. Dem- entsprechend referierte er: „Einer sei- ner Söhne hatte den Eindruck, daß Fliege gar kein großes Interesse und Verständnis für Politik aufbrachte, son- dern daß er vielmehr ein Romantiker war, der den Versprechungen der Nazis zuviel Glauben geschenkt hatte [...] Die kurz darauf folgenden Reisen nach Italien und Norwegen [...] hatte Fliege vielleicht auch als Fluchtmöglichkeit vor den immer bedrückender werden- den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen benutzt. Ohne ihn von einer politischen Mitverantwortung reinwaschen zu wollen, muß noch erwähnt werden, daß er – wohl im Gegensatz zur Partei – wesentlich tole- ranter gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden war.“ Diese Toleranz habe ihm nach dem Krieg die gesellschaftliche Reintegration erleichtert. 42 UND BIS IN DIE 1980ER- JAHRE VERKLÄRT Selbst Flieges militärischem Auftreten in den Lehrveranstaltungen konnte der Verfasser etwas abgewinnen: „Sein Umgangston war stets kurz und militä- risch präzis, dennoch fühlten sich die Studenten verstanden und anerkannt.“ 43 In der Entscheidung des Gerichts, Fliege die Rechtsstellung eines ent- pflichteten Professors zuzuerkennen, glaubte der Verfasser schließlich eine „völlige gesellschaftliche Rehabilitie- rung“ Flieges zu erkennen. 44 Im Gegensatz dazu hatte Carl-Heinz Fischer 45 kurz zuvor in seinen Lebens- erinnerungen (1985) klare Worte ge- funden. Er vermerkte in Bezug auf seinen früheren Kollegen Fliege lapi- dar: „Er hatte sich im Dritten Reich stark engagiert und war deshalb nach dem Krieg aus dem Amt vertrieben worden.“ 46 \ 24 HHStA Wiesbaden, 520, Nr. FuZ-A 326 (Spruchkammerakte Hans Fliege); 25 DZA (1957), 382; 26 Aumüller (2001), 655; 27 Auerbach (1979), 232; StA Marburg, Best. 310, Acc. 1992/55, Nr. 6176, Bd. 1 (Personalakte Hans Fliege); Wilkens (1987), 145; 28 Wilkens (1987), 145f; 29 Fliege (1924); Fliege (1925); Fliege (1931); 30 Fliege (1929); Fliege (1934a); 31 Fliege (1938); Fliege (1942); 32 Fliege (1934b); Fliege (1937); 33 Groß/Schäfer (2009); 34 Groß (2020b); 35 Groß (2020c); 36 Groß (2020d); 37 Groß (2020e); Groß (2018a); 38 Groß (2020a); 39 Schwanke/Krischel/Groß (2016); Groß (2018b); 40 Vgl. etwa Bernhardt (1990), 272; 41 Wilkens (1987), 10f; 42 Wilkens (1987), 10f; 43 Wilkens (1987), 131; 44 Wilkens (1987), 145; 45 Groß/Schmidt/Schwanke (2016), 129–171; 46 Fischer (1985), 612. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 38 | GESELLSCHAFT

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