Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 18
zm 110, Nr. 18, 16.9.2020, (1716) INTERVIEW MIT DEM BEAUFTRAGTEN DER BUNDESREGIERUNG FÜR DIE BELANGE VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN „Barrierefreiheit sollte auf derselben Stufe stehen wie Brandschutz“ „Für mich geht es nicht um ‚barrierearm‘, es geht um barrierefrei“, stellt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, klar. Mit einer Rampe allein sei es nicht getan. Welche Erfolge für Menschen mit Behinderungen sehen Sie bislang in der Zahnmedizin? Jürgen Dusel : Die Einführung des § 22a war gut und absolut notwendig. Denn Menschen mit Behinderungen haben nicht nur den gleichen An- spruch auf medizinische Versorgung wie Menschen ohne Einschränkungen. Sie haben darüber hinaus nach der Behindertenrechtskonvention der Ver- einten Nationen einen Anspruch auf zusätzliche Leistungen, die sie auf- grund ihrer Behinderung benötigen. Mit dem Paragrafen wurde für sie eine Leistung geschaffen, auf die sich die Menschen berufen können. Die Umsetzung dieser rechtlichen Rah- menbedingungen und die Anwendung liegen nun bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten. Was muss noch verbessert werden? Vorbeugen ist immer besser als heilen – es muss noch mehr Prävention möglich gemacht werden. Und der Personen- kreis, für den der § 22a gilt, sollte er- weitert werden – zum Beispiel durch den Wegfall der Beschränkung auf den GdB und den Bezug von Ein- gliederungshilfe. Meine Forderung ist, dass noch mehr auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einge- gangen wird. Konkret sollten auch die Leistungen der Fluoridierung und das Entfernen weicher Belege für sie gratis sein. Klar ist, die Behandlung von Patienten mit Handicap kann auf- wendiger sein. Dieser Aufwand sollte auch entsprechend vergütet werden – und zwar nicht mit Pauschalen. Hier brauchen wir individuelle Lösungen. Was sind dabei die Forderungen an die Politik? Wir diskutieren viel über Inklusion in der Bildung, vieles ist auch schon um- gesetzt worden. Auch die medizinische Versorgung muss inklusiv angegangen werden. Die mangelnde Barrierefreiheit ist ein Qualitätsproblem im Gesund- heitswesen. Berührungsängste führen zur Vermeidung von Kontakt. Mehr Anreize und das Wissen können diese mindern. Barrierefreiheit ist ein Quali- tätsstandard und sollte den gleichen Stellenwert haben wie zum Beispiel der Brandschutz, der überall erbracht werden muss. Was sind die Forderungen für und an die Zahnärzteschaft? Damit Inklusion gelingt, muss es vor allem mehr Fortbildungen zum Thema geben. Diese müssten meiner Meinung nach verpflichtend sein, wie in anderen Bereichen auch. Aufklä- rung und Wissen können beim Abbau von Berührungsängsten ein wichtiger Schritt sein. Fast 13 Millionen Men- schen in Deutschland mit Handicap bilden eine riesige Patientengruppe. Diese ist sehr heterogen – nicht jeder Patient mit Behinderung sitzt im Roll- stuhl. Also muss das Wissen darüber schon in die Ausbildung integriert sein und gehört auch in die Approbations- ordnung. In der Praxis ist es wichtig, dass alle Personen dort einen offenen und selbstverständlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen haben. Dafür sind Fortbildungen und Sensibi- lisierungstrainings für alle – am besten gemeinsam – am hilfreichsten. Wer JÜRGEN DUSEL ... ist der Beauftragte der Bundesregie- rung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Foto: Henning Schacht 42 | PRAXIS
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