Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19

zm 110, Nr. 19, 1.10.2020, (1798) D ie US-Forscher testeten, ob – von der Food and Drug Administration (FDA) zugelassene – hinzugefügte Polymeradditive mit hohem Molekulargewicht und hoher Viskoelastizität im Kühlwasser die Aerosolbildung möglicherweise ganz unterbinden können. Rheologen sprechen hier im Unterschied zu Zahnärzten und Ärzten nicht von Aero- solisierung, sondern von der Zerstäubung von Flüssigkeiten. Bentley et al. hatten schon 1994 in ihrer Studie „Evaluating spatter and aerosol contamination during dental procedures” Versuche unternommen, in denen sie die Ausbreitung von Bakterien über Kühlwasserspritzer und Spraynebel untersucht hatten. Sie identifizierten Ultraschall-Scaler und luftbetriebene Turbinenhandstücke als besonders ungünstig für die Verbrei- tung von pathogenhaltigen Tröpfchen und Aerosolen. ULTRASCHALL-SCALER UND TURBINE SIND KRITISCH BEI DER VIRUSÜBERTRAGUNG Die Aerosolbildung beim Ultraschall-Scaler und bei der Turbine läuft unterschiedlich ab: Beim Scaler bildet sich an der Spitze ein steter Wassertropfen, der am Zahnfleischrand aufliegt. Die Vibration der Scalerspitze in diesem Tropfen führt zur Aerosolbildung. Der Bohrer an der pneumatischen Turbine ist dagegen mit einem abfließenden Flüssigkeitsfilm bedeckt, der aufgrund der Zentrifugalkraft des rotierenden Bohrers von ihm weg beschleunigt wird. So entstehen sehr kleine, kaum sichtbare Tröpfchen. Die Forscher untersuchten zwei Polymer-Zusätze: Polyacryl- säure und Xanthangummi. Polyacrylsäure dient als Wasser- absorber – etwa in Babywindeln – oder als Gelbildner – etwa in der Arzneimittelherstellung. Die lockere Vernetzung der Moleküle lässt Platz für die Einlagerung von Wasser. Xanthangummi wird in der Lebensmittelindustrie unter der Bezeichnung E 415 als Verdickungs- und Geliermittel verwen- det, etwa in Milchprodukten, Dressings oder Ketchup. Diese beiden Additiva untersuchten die Wissenschaftler als Kühlwasserzusatz des Cavitron-Scalers (DENTSPLY®, Cavi- tron® SelectTM SPSTM Ultraschall-Scaler) und eines Turbinen- betriebenen Handstücks. Dabei machte das Xanthangummi 0,8 und die Polyacrylsäure zwei Gewichtsprozent der Kühl- lösung aus. Die Additive erhöhten die Viskosität des Wassers, indem sie es „zäher“ und „elastischer“ machten. Rheologen nennen dies Scher- und Dehnviskosität. Speichel zum Beispiel ist eine natürliche viskoelastische Flüssigkeit und verringert die Tendenz zur Aerosolbildung im Zusammenspiel mit zahn- medizinischen Ultraschall- oder rotierenden Instrumenten. Die Polyacrylsäure steigerte in der Studie die Scherviskosität des Wassers um den Faktor sechs, während das Xanthan- gummi sie nur dreifach erhöhte. Daneben erhöhte sich auch die Dehnviskosität des Kühlwassers mit dem Zusatz der Poly- mere. Wenn sich ein Tropfen von einem Flüssigkeitskörper ablösen möchte, bildet sich ein „Tröpfchenschwanz“. Je „elas- tischer“ die Flüssigkeit ist, desto mehr zieht sich dieser in die Länge und erlaubt es dem Tropfen nicht, sich abzulösen. Die langkettigen Polymermoleküle wirken hier wie Gummibänder. GEKNÄULTE POLYMERKETTEN ZIEHEN DIE TRÖPFCHEN ZURÜCK „Hier kommen die signifikanten elastischen Kräfte ins Spiel, die mit dem Coil-Stretch-Übergang von Polymermakromolekülen verbunden sind“, sagte Alexander Yarin, Professor an der Fa- kultät für Maschinenbau und Wirtschaftsingenieurwesen der Universität von Illinois/Chicago und Senior-Autor der Studie. Coil-Stretch-Mechanismus bedeutet, dass sich geknäulte Poly- merketten durch Scherkräfte strecken. „Sie unterdrücken die Schwanzdehnung und ziehen das Tröpfchen zurück, wodurch die Aerosolisierung vollständig verhindert wird.“ Bei Verwendung des Cavitron-Scalers mit dem Polyacrylsäure- Additiv zeigte sich folgender Ablauf: Ein Anfangszustand, bei dem ein Wassertropfen den Scaler herunterrinnt und an der Spitze verbleibt (natürlich rinnt immer Wasser nach). Dann der Moment, in dem normalerweise die Aerosolisierung be- ginnen würde. Doch mit dem Polyacrylsäure-Zusatz bildeten sich Ausstülpungen am Wassertropfen, die an ein Medusen- haupt erinnern (Abbildung 1). Schließlich stellte sich eine Art Gleichgewichtszustand ein. Der Flüssigkeitstropfen, in dem die Scalerspitze steckte, zeigte lediglich Wellen an seiner Oberfläche, aber es lösten sich keine Tropfen ab, da die elas- tischen Kräfte die Aerosolisierung vollständig verhinderten. Auch der Xanthangummi-Zusatz konnte die Aerosolisierung am Cavitron-Scaler verhindern. Verwendeten die Forscher das Turbinenhandstück mit Zusatz von Polyacrylsäure im Kühlwasser, zeigte sich nach einem AUS DER WISSENSCHAFT Forscher wollen Aerosolbildung komplett unterbinden Kerstin Albrecht Physiker der Universität Illinois/Chicago verfolgen einen neuen Ansatz, um die Gefahr einer möglichen Infektion mit SARS-CoV-2 bei zahnärztlichen Behandlungen zu reduzieren: Sie wollen die Spraynebelbildung komplett verhindern. Abb. 1: Standbilder aus einer Videosequenz über die Verwendung eines Cavitron-Scalers mit Zusatz von zwei Gewichtsprozent Polyacryl- säure in der Kühlflüssigkeit: a) Ausgangsituation, b) „Medusenhaupt“, c) Pseudo-Gleichgewichtszustand ohne Aerosolbildungg Foto: © J. Plog et al., Physics of Fluids Vol. 32, Issue 8, 083111 (2020) 16 | ZAHNMEDIZIN

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