Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20
zm 110, Nr. 20, 16.10.2020, (1920) heilkunde mit einem umfassenden Kapitel zur „Atrophie der Zähne“: Diese „bezeichnet eine partielle Entwicklungs- hemmung infolge einer Ernährungs- störung. [...] Die an mehreren Zähnen betroffenen Partien sind immer jene, die in einem gegebenen Zeitpunkt bei der betreffenden Person eben in Bildung begriffen waren.“ Das ist die bis heute gültige Ätiologieauffassung, umso mehr, als Black hinzufügt, „daß es keine spezielle Krankheit gibt, die für diese Mißbildung verantwortlich gemacht werden kann, und daß vielmehr jede Krankheit, welche die [zelluläre, Ergän- zung der Autoren] Ernährung ernstlich beeinträchtigt, diese Folgen hervorzu- rufen imstande ist.“ Kronfeld und Schour [1939] prägten den Begriff der neonatalen dentalen Hypoplasie, gefolgt von den Unter- suchungen von Sarnat und Schour [1941, 1942] zur Schmelz-Hypoplasie und Aplasie in Verbindung mit syste- mischen frühkindlichen Erkrankungen. Ein entscheidender Durchbruch war schließlich die Zusammenfassung der Entwicklung der menschlichen Denti- tion von Schour und Massler [1940, 1941] in klassisch gewordenen schema- tischen Abbildungen der beginnenden Mineralisation, der Wurzelentwick- lung, der Exfoliation der Milchzähne und der Abschlussentwicklung der Kronen und Wurzeln der bleibenden Zähne in – pars pro toto – jeweils einem Quadranten (Abbildungen 4 und 5). Weerheijm et al. [2001] schlugen mit der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisa- tion (MIH) einen neuen Namen vor, der die komplexe zellulär über die Ameloblasten und Odontoblasten ge- steuerte Hypoplasie und Aplasie nur bedingt berücksichtigte und unglück- licherweise auf die bisher unbekannte Ätiologie abstellte. Dies trifft jedoch nur bedingt zu: Während der zeitgleichen Zelldifferenzierung der Ameloblasten aus dem inneren Schmelzepithel und der Odontoblasten aus den Mesenchym- zellen haben diese Zellen zum Beginn der Sekretion der Dentinmatrix und der darauf folgenden Sekretion der Schmelzmatrix bis zum Abschluss einen hohen Energiebedarf. In Inzisivus- und Molaren-Organ-Kulturen von Mäusen konnten Ida-Yonemochi et al. [2016, 2020] zeigen, dass der Glucose-Meta- bolismus einer der kritischen Faktoren der Regulierung der Amelogenese ist. Die Inhibition von zellulären Glucose- Transportern und Ionen-Kanälen führt zur Störung der Schmelz- und Dentin- Matrix-Bildung und zusätzlich zu Inva- ginations-Veränderungen im Glocken- stadium des Zahnkeims und damit zu Veränderungen der Form des Schmelz- mantels. Der Zellstoffwechsel während der Zahnentwicklung ist abhängig vom systemischen Metabolismus des Makroorganismus, und der ist insbe- sondere perinatal durch Hypoxie bei verzögertem Geburtsvorgang und bei allen frühkindlichen Infekten und metabolischen Störungen bis zum dritten Lebensjahr besonders anfällig. Jeder frühkindliche Infekt und jede metabolische Störung kann je nach der individuellen Reaktion des Organis- mus zu Hypomineralisationen, Hypo- plasien und Aplasien der bleibenden Zähne von den Frontzähnen, ersten Molaren, Eckzähnen bis zu den Prä- molaren führen. Störungen des Glucose-Metabolismus können auch am gesamten Skelett die komplexe Biomineralisation mit Hydroxylapatit beeinträchtigen. Durch den permanenten knöchernen Umbau verschwinden diese temporären Ent- wicklungsstörungen jedoch wieder. Nur bei der definitiven Schmelzentwicklung und lebenslangen Dentinentwicklung bleiben die präeruptiven, metabolisch ausgelösten Anomalien erhalten und werden klinisch Jahre später nach der Eruption erst am Schmelz sichtbar. Wenn keine Schmelzaplasie stattgefun- den hatte, bleiben Hypoplasien des Dentins lebenslang verborgen. Pathogenetisch erscheint hypominera- lisierter oder hypoplastischer Schmelz in Abhängigkeit vom Zeitpunkt und der Intensität der metabolischen Störung als weiß-opaker Fleck infolge einer Prismenstrukturänderung des vollständig transparenten Schmelzes, als Einziehungen mit Grübchen und Streifen bei Verlust der Matrixbildung im äußeren Schmelzmantel, als frei- liegendes hypoplastisches Dentin bei vollständigem Verlust der Schmelz- Foto: Gängler, Lang Abb. 3a: Schmelzaplasie 31, 32 und 41, 42 mit minimaler Freilegung hypoplastischen Dentins an 32 und 42; weiße opake Flecken inzisal an 33 und 43: Entstehung im zwölften Lebensmonat Foto: Gängler, Lang Abb. 3b: Schmelzaplasie an 36 mit girlandenförmigen Einschnürungen und deutlicher Zerfurchung der Okklusalfläche durch Invaginations- störungen der frühen Molaren-Schmelzfaltung: Entstehung im zwölften Lebensmonat; Fehldiagnose einer Karies mit Amalgamfüllungen DR. TOMAS LANG ORMED, Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten Foto: privat 26 | ZAHNMEDIZIN
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