Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 110, Nr. 20, 16.10.2020, (1941) die geäußerten Beschwerden sich gegebenenfalls erst nach einer gewis- sen Regenerationszeit legen und auch durch die Mund-Antrum-Verbindung und die Reizung der Kieferhöhle ver- stärkt worden sein könnten, ändern nichts an seinemWunsch. Auch weite- res Abwarten, eine Bedenkzeit sowie das Einholen einer Zweitmeinung lehnt der Patient kategorisch ab. Eben- so ablehnend steht er einer abermali- gen Überweisung in die Praxis von R. gegenüber, woraufhin M. ihn zum Oralchirurgen Dr. F. zur Aufklärung und Durchführung der Extraktion von Zahn 15 überweist. AUCH DER ORALCHIRURG LEHNT DIE EXTRAKTION AB Bereits am nächsten Tag wird Patient S. bei F. vorstellig, der reizlose Schleim- hautverhältnisse bei persistierenden Beschwerden in regio 15 diagnostiziert, der Zahn selbst ist nicht perkussions- empfindlich. Unter Berücksichtigung aller vorliegenden Befunde lehnt F. eine Extraktion ab und rät stattdessen zu einer Verlaufskontrolle beziehungs- weise gegebenenfalls zu einer erneuten endodontischen Intervention. Unzu- frieden wendet sich S. wieder an seinen Hauszahnarzt und besteht weiterhin auf der Extraktion, deren Durchführung M. konsequent ablehnt, da der Zahn aus seiner Sicht sowohl erhaltungswürdig als auch erhaltungs- fähig erscheint. S. äußert sich nach dem Gespräch dahingehend, dass er alle beteiligten Zahnärzte für „inkompetent“ hält, künftig nicht mehr zu M. in Behandlung kommen wolle und schon einen Zahnarzt finden werde, der „diesen verflixten Zahn“ zieht. Für M. ergeben sich mehrere Fragen: Ist er mit dem unbedingten Patienten- wunsch nach der Extraktion des Zahns 15 richtig umgegangen? Hätte er dem Wunsch nach der Extraktion – gerade vor dem Hintergrund einer deutlichen Diskrepanz zwischen der Patienten- autonomie und den klinischen Befun- den – besser früher zustimmen und auch bei den mitbehandelnden Kolle- gen darauf dringen sollen? Was wiegt für den Zahnarzt mehr: die Patienten- autonomie oder die einer gewünschten Behandlung entgegenstehenden kli- nischen Befunde? \ KOMMENTAR Die Kommunikation ist der Knackpunkt! D er dargestellte Fall beschreibt sehr gut das Dilemma einer Dreiecksbeziehung in der Patientenversorgung bei Einbezie- hung von Spezialisten. Sorgt die Spezialisierung im Allgemeinen für eine höhere Versorgungsqualität, kann sie dennoch im Einzelfall den Behandlungsablauf verkomplizieren oder – wie hier beschrieben – sogar scheitern lassen. In der Konsequenz fällt dann die Verantwor- tung für das Gesamtgeschehen meist auf den (überweisenden) Haus- zahnarzt zurück. Aus Sicht von S. wurde das primäre Anliegen – die Schmerzbeseitigung und somit die Wiederherstellung der gewohnten Lebensqualität – trotz der „Odyssee“ „unzähliger Behandlungssitzungen“ nicht erreicht. Daher empfindet er die involvierten Zahnärzte im Hinblick auf die Erfüllung seines durchaus nachvollziehbaren Anliegens als „inkompetent“. Im Folgenden betrachte ich den Fall in Bezug auf die ethischen Prin- zipien nach Beauchamp und Childress: Non-Malefizienz (Nichtschadensgebot): Das Nichtschadensgebot sieht vor, dass ein erhaltungswürdiger Zahn, und als solcher wurde 15 im Rahmen der Untersuchungen und Therapieversuche durch die involvierten Kollegen eingestuft, auch erhalten wird. Dieses Konzept wurde durchweg konsequent verfolgt beziehungsweise angeraten. Benefizienz (Wohltunsgebot): Schwieriger stellt sich die Bewertung des Gebots des Wohltuns dar. So kann man in der dargestellten Situation argumentieren, dass alle in die Behandlung eingebundenen Mediziner dem Patienten langfristig etwas „Gutes“ tun wollen, indem der Zahn erhalten wird. In der akuten Phase wird man aber ebenso gut die Ansicht vertreten können, dass die Schmerztoleranz von S. an ihre Grenzen gekommen ist und man ihm mit der Entfernung des Zahns sowie der damit zu erwarten- den unmittelbaren Steigerung beziehungsweise Wiederherstellung der Lebensqualität mehr hilft. Aus Sicht des Patienten ist die Befolgung dieses Grundprinzips in der zweiten Auslegung offensichtlich zur obersten Priorität geworden. DR. MED. DENT. DIRK LEISENBERG Ringstr. 52b, 36396 Steinau leisenberg@ak-ethik.de Foto: privat GESELLSCHAFT | 47

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