Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20
zm 110, Nr. 20, 16.10.2020, (1942) Patientenautonomie: S. hat seinen Wunsch, den Zahn ziehen zu lassen, nachdrücklich ge- äußert. Somit folgt aus dem Respekt vor der Patientenautonomie erst einmal, dass der Zahn zu entfernen ist. Eingeschränkt wird dieses Prinzip durch die Notwendigkeit einer medizinischen Indikation, ohne die die Patientenautonomie zu einem bedingungslosen Türöffner zur wunscherfüllenden Zahnmedizin würde. Hier liegt der „Knackpunkt“ des dargestellten Falls. Die behandelnden Ärzte sehen diese Indikation als nicht gegeben. Gleichwohl ist sie aus meiner Sicht in Anbetracht des intensiven Schmerzgeschehens und der klaren Lokalisierung desselben durchaus vorhanden. Zu diesem Schluss kommt M. nach anfänglichem Zögern ebenfalls und überweist S. zur Extraktion an F., der erneut die Indikation als nicht gegeben sieht und daher die Extraktion verweigert. Gerechtigkeit: Das Prinzip der Gerechtigkeit wird hier mittelbar tangiert. Versetzt sich der Zahnarzt selbst in die Rolle des Patienten, der seit geraumer Zeit mit starken Schmerzen zu kämpfen hat, würde er vermutlich ebenfalls die Extraktion wünschen. Somit stellt sich die Frage, ob es gerecht ist, S. die Behandlung, die man sich ebenfalls in seiner Situation wünschen würde, zu verwehren. Fazit Generell ist eine endodontische Behandlung ein Erhaltungsversuch eines vorgeschädigten Zahns. Je nach Ausbildungsstand, Behandlungs- konzept und persönlicher Erfahrung eines Zahnarztes können diese Therapieoptionen von „aussichtslosen Versuchen“ bis hin zu „größtenteils erfolgreichen Therapien“ reichen. Selbst im zweiten Fall können aber auf dem Weg zum Erfolg noch sehr schmerzhafte Tage oder schlimmstenfalls Wochen für den Patienten liegen. Bei einem solchen Erhaltungsversuch stellt sich meist die Kommuni- kation mit dem Patienten als zentraler Punkt heraus. Der behandelnde Arzt muss ihn im Sinne des „informed consent“ abholen, um die Ein- sicht für eine Therapie zu erreichen und die entsprechende Motivation zu schaffen. Oft gehen Patienten auch durch langwierige und un- angenehme Behandlungen, wenn sie sich nach entsprechender Auf- klärung dafür entschieden haben und ihnen das in Aussicht gestellte Ziel erstrebenswert erscheint. Sofern sich der Patient nach entspre- chender Beratung im Laufe der Behandlung gegen deren Fortführung entscheidet, muss der behandelnde Arzt für sich klären, ob er den Weg des Patienten mitgeht oder ihn nicht vertreten kann und somit ablehnt. Im dargestellten Fall hätte ich im Sinne der Patientenautonomie und des Benefizienzprinzips den Zahn extrahiert. Sofern ich, wie M., diese Extraktion nicht selbst durchführen würde, hätte ich den involvierten Chirurgen in einem Vorgespräch über den bisherigen Leidensweg des Patienten ins Bild gesetzt, um so die von mir und dem Patienten an- gestrebte Therapieentscheidung für den Chirurgen über den aktuellen klinischen Befund hinaus nachvollziehbar zu machen. \ KOMMENTAR Fachliches Know-how sticht Patientenautonomie I m zahnärztlichen Behandlungs- alltag taucht des Öfteren die Frage auf, ob ein Patient seinen Wunsch nach Entfernung eines Zahns entgegen zahnärztlichem Rat durchsetzen kann oder können sollte. Im vorliegenden Fall möchte Patient S. den Zahn 15 entfernen lassen wegen anhaltender Beschwerden und der Häufigkeit der notwendigen Behand- lungstermine. Die verschiedenen Behandler – Hauszahnarzt M., Kiefer- chirurgin R. und Oralchirurg F. – sind gegen die Extraktion, weil aus ihrer Sicht eine deutliche Wahrscheinlich- keit für den Erhalt des Zahns in situ besteht. Lediglich Hauszahnarzt M. überweist zwischenzeitlich zu Oral- chirurg F. zwecks Extraktion. M. möchte den betreffenden Zahn auf keinen Fall selbst entfernen, kann sich aber interessanterweise zu einer Überweisung zwecks Extraktion alio loco entschließen. Wie ist also das Verhalten der be- handelnden Zahnärzte ethisch zu bewerten? Alle drei Behandler haben für sich entschieden, dem Wunsch des Patien- ten nicht zu entsprechen und den Zahn 15 nicht zu entfernen. S. besteht trotzdem auf einer Extraktion. Diese Entscheidung hat er getroffen, obwohl er über den Behandlungsablauf und DR. MED. DENT. GERO KROTH, MASTER OF APPLIED ETHICS Habichtweg 7, 50859 Köln mail@DrKroth.de Foto: privat 48 | GESELLSCHAFT
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