Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 110, Nr. 20, 16.10.2020, (1944) den Wunsch nach einer Extraktion nach vorangegangener Aufklärung über die möglichen negativen Fol- gen nachhaltig äußert, spricht aus moralischer Sicht des Behandlers nichts dagegen, dem Wunsch zu entsprechen. In Deutschland stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier überwiegt meist der Fürsorge- gedanke, das heißt, ein Vorgehen wird als regelrecht empfunden, wenn der langfristige Nutzen für den Patienten überwiegt, auch wenn der Patient dies kurzfristig anders sieht. Auch die deutsche Rechtsprechung folgt mehrheitlich diesem Prinzip mit der Folge, dass ein Arzt in einem Rechtsstreit auch dann unterliegt, wenn er nachweisen kann, dass die Behand- lung auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten nach ausführlicher Aufklärung über die negativen Fol- gen und gegen die erklärte Über- zeugung des Arztes durchgeführt wurde. Kommt also ein Patient nach einem chirurgischen Eingriff auf eigenes Verlangen, gegen den ausdrücklichen Rat des Arztes, zu der Erkenntnis, dass die Nachteile des Eingriffs die Vorteile über- wiegen, konnte er in der Vergan- genheit mit hoher Erfolgsaussicht den Behandler verklagen. Welche Lösungsmöglichkeiten blei- ben also dem Arzt? Er kann sich dem Wunsch beugen, um sich dem Vorwurf zu entziehen, paternalistisch – das heißt hier „bevormundend“ – zu handeln, oder er kann die Wunschbehandlung verweigern, unter Inkaufnahme des Risikos, seinen Patienten zu verlieren. Im Idealfall würde er den Patienten so umfänglich aufklären, dass jener in den Kenntnisstand des Arztes versetzt wird, die Ver- weigerung aus ärztlicher Sicht nachvollziehen und von seinem ursprünglichen Wunsch Abstand nehmen kann. Da ein solcher „in- formed consent“ (darunter versteht man im Regelfall eine Einwilligung des Patienten in einen ärztlichen Eingriff, nachdem er durch Auf- klärung in den Kenntnisstand des Arztes versetzt worden ist) aber in der Praxis eher unwahrscheinlich erscheint, bleibt dem Behandler nur, die Extraktion zu verweigern und eine alternative Behandlung anzubieten. Er setzt sich ansonsten dem Vorwurf aus, wider besseres Wissen gehandelt und zugelassen zu haben, dass der Patient eine Ent- scheidung durchsetzt, deren Folgen er nicht voll umfänglich über- schauen kann. Hier steht also klar das Fürsorgegebot vor dem Gebot des Respekts vor der Autonomie des Patienten. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass moralische Normen meistens kulturell geprägt werden und nur sehr bedingt universalisier- bar sind. In anderen Kulturkreisen würde man mit dem behandlungs- verweigernden Fürsorgegedanken auf Unverständnis stoßen, weil Ver- treter einer anderen moralischen Position den Wunsch des Patienten viel höher bewerten. Sie sehen sich damit diesem Zweifel gar nicht aus- gesetzt. Moralische Dilemmata lassen sich häufig durch die Frage „Wie möchte ich behandelt werden?“ lösen. In diesem Fall also durch die Frage: „Möchte ich, dass meinemWunsch entsprochen wird, auch wenn die- jenigen, die meinen Wunsch um- setzen sollen, im Besitz von Infor- mationen oder Erfahrungen sind, die langfristig meinen Wunsch als zu kurz gedacht entlarven würden?“ Kann man diese Frage für sich beantworten, fällt einem die Ent- scheidung, wie mit dem Wunsch des Patienten umzugehen ist, leichter. \ SCHILDERN SIE IHR DILEMMA! Haben Sie in der Praxis eine ähnliche Situation oder andere Dilemmata erlebt? Schildern Sie das ethische Problem – die Autoren prüfen den Fall und nehmen ihn gegebenenfalls in diese Reihe auf. Kontakt: Prof. Dr. Ralf Vollmuth, vollmuth@ak-ethik.de Alle bisher erschienenen Fälle sowie ergänzende Informationen zur Prinzipienethik und zum Arbeitskreis Ethik finden Sie auf zm-online.de. AUFRUF 50 | GESELLSCHAFT

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