Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 110, Nr. 20, 16.10.2020, (1976) seit 1908 dem Steuerausschuss des Finanzamtes Berlin- Schöneberg an, arbeitete als zahnärztlicher Sachverständiger bei Gericht. 1921 wurde er in den neu gegründeten Landes- gesundheitsrat des Preußischen Ministeriums für Volkswohl- fahrt berufen. 8 1912 heiratete Misch die zwölf Jahre jüngere Opernsängerin Hertha Cohnheim, die auch unter dem Namen Hertha Formes auftrat. 1918 wurde der gemeinsame Sohn Hans- Horst geboren. Dass dieser 1932 eine Bar-Mitzwa feierte, deutet darauf hin, dass die Familie praktizierende Juden waren. 9 EINE REZENSION IST NICHT NÖTIG – JEDER KENNT SEINE BÜCHER Im Zentrum seiner beruflichen Interessen stand die Synthese von wissenschaftlicher Forschung und zahnärztlicher Praxis. Zusammen mit Carl Rumpel hatte Misch 1916, während des Ersten Weltkriegs, das Lehrbuch „Die Kriegsverletzungen der Kiefer und der angrenzenden Teile“ 10 veröffentlic ht – eines der ersten Lehrbücher zu diesem Thema. 11 1914 war Mischs „Lehrbuch der Grenzgebiete der Medizin und Zahnheilkunde für Studierende, Zahnärzte und Ärzte“ in erster Auflage erschienen. 12 In einer Rezension zur zweiten Auflage von 1922, 13 nun zweibändig, heißt es enthusiastisch: „Eine Besprechung über Mischs Grenzgebiete zu schreiben ist eigentlich überflüssig, da es wohl keinen Praktiker und über- haupt keinen wissenschaftlich interessierten Zahnarzt geben dürfte, der dieses Buch nicht kennte und seinen Wert nicht zu schätzen wüsste.“ 14 Ein Jahr später erschien bereits die dritte, wiederum vermehrte Auflage. 15 Ab 1925 gab Misch monatlich die Zeitschrift „Fortschritte der Zahnheilkunde“ heraus, die auch das internationale Schrifttum referierte und damit zur Überwindung der wis- senschaftlichen Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg beitragen sollte. Im Vorwort zum neunten Jahr- gang 1933 bezeichnet Misch die Zeitschrift dann selbst- bewusst als „das international anerkannt führende Werk in der Zahnheilkunde“. 16 1926 hatte Misch hier einen programmatischen Aufsatz zur sozialen Zahnheilkunde veröffentlicht, die er in Anlehnung an das Konzept der Sozialhygiene (Grotjahn/Fischer) 17 als „Zahnärztlich-soziale Hygiene“ bezeichnete. Als deren Kern- aufgabe betonte er die Prophylaxe, da „die Zahncaries [...] für viele Volksseuchen nur der Schrittmacher, jedoch schon als Krankheit allein von großem volkswirtschaftlichen Einfluß ist“. 18 Der Begriff fand zwar Eingang in die zeitgenössische bibliografischen Klassifikationen, 19 langfristig setzte sich aber der von Alfred Cohn geprägte Begriff der sozialen Zahnheilkunde durch. 20 Mit Cohn und Alfred Kantorowitz zählt Misch zu den Grün- dungsvätern der sozialen Zahlheilkunde in Deutschland. Er hatte bereits 1898 die Einrichtung von Schulzahnkliniken und Zahnkliniken in Krankenhäusern und 1910 den Aufbau einer schulzahnhygienischen Fürsorge gefordert. 21 Mischs erfolgreiches Wirken in der deutschen Zahnheilkunde erlebte ebenso wie sein bürgerliches Leben, wie es anschaulich im Gedenkbuch für die Berliner Juden im Ghetto Litzmann- stadt erzählt wurde, bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 eine tiefe Zäsur. Misch wurde aus allen Ämtern entfernt und hatte mit wirtschaftlichen Ein- bußen zu kämpfen. 22 Obwohl er den „Deutschen Verband zur Foerderung der Universität Jerusalem“ und damit die zionistische Bewegung schon 1932 mit einer umfangreichen Bücherspende unterstützt hatte, 23 sind zunächst keine kon- kreten Emigrationspläne nachweisbar. EIN JUDE ALS HERAUSGEBER IST FÜR DIE NAZIS NICHT LÄNGER TRAGBAR Um die Herausgeberschaft seiner Zeitschrift „Fortschritte der Zahnheilkunde“ kämpfte Misch bis 1936 energisch. In einer Stellungnahme der Reichsschrifttumkammer vom 8. Februar 1934 wird Mischs Urheberrecht zwar anerkannt, zugleich Abb. 2: Titelblatt der von Misch herausgegebenen Fortschritte der Zahnheilkunde (1933) 8 Holler, 2009, S. 138; 9 Holler, 2009, S. 137–138; 10 Die Kriegsverletzungen der Kiefer und der angrenzenden Teile, hg. von Julius Misch, 1916; 11 Vollmuth/Zielinski, in: WMM 58 (2014), 245–250, S. 249 (https://wehrmed.de/article/2591-die-kriegsbedingte-entwicklung-neuer-medizinischer- spezialdisziplinen-das-beispiel-mund-kiefer-und-gesichtschirurgie.html ); 12 Misch, 1914; 13 Misch, 1922; 14 Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde 40 (1922), S. 539; 15 Misch, 1923; 16 Misch, in: Misch, Julius, Fortschritte der Zahnheilkunde, 9 (1933), S. III; 17 Heinzelmann, 2009; 18 Misch, in: Fortschritte der Zahnheilkunde 2 (1926), S. 465; 19 Hesse, Richard, Index der deutschen und ausländischen Zahnärztlichen Literatur und zahnärztlichen Bibliographie; 20 Cohn, 1922; 21 Heidel, 1995, S. 46–57; 22 Holler, 2009, S. 138–139; 23 The Hebrew University has received a number of additions to its library from various countries, in: Jewish Daily Bulletin 9 (1932) Nr. 2341, S. 3 DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat 82 | GESELLSCHAFT

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