Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24

zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2290) Bis heute wurden mehrere hundert prokaryotische Taxa in der Mundhöhle nachgewiesen. Viele von ihnen können mit den üblichen Kulturmethoden nicht isoliert werden. Etwa 57 Prozent sind bekannte Spezies, 13 Prozent sind unbenannt, aber kultivierbar und 30 Prozent sind nur als unkultivierte Phylotypen bekannt [HOMB, 2020]. Das orale Mikrobiom setzt sich nicht nur aus verschiedenen Bakterienspezies zu- sammen, sondern enthält auch Pilze, Viren, Bakteriophagen sowie ultra- kleine Bakterien [Baker et al., 2017]. SYMBIOSE UND DYSBIOSE Das orale Mikrobiom trägt sowohl zum lokalen oralen als auch zum all- gemeinen Gesundheitszustand bei. Störungen können sich nachteilig auf die individuelle Gesundheit auswirken. Im Gegensatz zum gesunden, symbio- tischen Mikrobiom liegt eine Dysbiose vor, wenn die Vielfalt der Keime redu- ziert und/oder die relativen Anteile von Spezies der mikrobiellen Gemein- schaft pathogen verändert sind [Valm, 2019]. In der gesunden Mundhöhle ist die Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaften bemerkenswert stabil. Allerdings bleiben die Beziehungen zwischen dem oralen Mikrobiom und seinem Wirt stets dynamisch. So beeinflussen Veränderungen im Laufe des Lebens eines Menschen die mikro- biellen Gemeinschaften [Marsh et al., 2015]. Beispiele dafür sind physio- logische Veränderungen während des Alterns oder hormonelle Verände- rungen in der Pubertät und in der Schwangerschaft. Die Anpassung er- folgt oft mit dauerhafter, teils jedoch auch mit reversibler Beeinträchtigung der Mundgesundheit [Zaure und ten Cate, 2015]. Eine Störung des Öko- systems der Mundhöhle führt zu einer dysbiotischen Verschiebung hin zu einem höheren Anteil pathogener Mikroorganismen mit dem Verlust des Gleichgewichts oder der Diversität von mikrobiellen Gemeinschaften [Gross et al., 2010]. Die Dysbiose ist dabei keine „Infektionskrankheit“, sondern bezeichnet ein orales Mikrobiom im Zustand der Erkrankung. Zu den modifizierbaren Faktoren, die eine orale Dysbiose auslösen können, gehören Funktionsstörungen der Speicheldrüsen und damit Verände- rungen des Speichelflusses oder seiner Zusammensetzung, eine unzureichende Mundhygiene, Ernährungsgewohn- heiten und das Rauchen [Marsh et al., 2010; Wu et al., 2016]. Es ist heute ein anerkanntes Konzept, dass orale Er- krankungen als ungünstige Verände- rung des natürlichen Gleichgewichts der Mikroorganismen und nicht als die Folge einer exogenen Infektion aufge- fasst werden. Im Rahmen einer Dys- biose können krankheitsassoziierte Mikroorganismen in deutlich erhöh- ten Anteilen vorhanden sein, während sie unter gesunden Bedingungen harmlose Bestandteile des Biofilms sind [Larmont et al., 2018]. So wird Karies heute als Folge eines zugunsten kariogener Keime verschobenen (ge- störten) mikrobiellen Gleichgewichts verstanden. SYSTEMISCHE FOLGEN DER ORALEN DYSBIOSE Die Mundhöhle bietet den hier leben- den Mikroorganismen vielfältige Mög- lichkeiten, andere Körperregionen wie den Verdauungstrakt und die Atem- wege zu erreichen. Im Fall inflammato- rischer Prozesse oder in Folge von Ver- letzungen können Keime in Gewebe sowie in die Blutbahn gelangen. Die Dysbiose im Rahmen von Paro- dontalerkrankungen kann den Aus- löser einer Bakteriämie und der syste- mischen Verbreitung von oralen Bakterien darstellen. Eine effiziente Mundhygiene ist entscheidend für die Kontrolle der Gesamtbakterienlast [Forner et al., 2006; Han und Wang, 2013]. Komplexe Wechselbeziehungen zwischen dem oralen Mikrobiom und dem Immunsystem werden diskutiert und es wird angenommen, dass die orale Dysbiose bei der Entwicklung von Atemwegs- und Herz-Kreislauf- Erkrankungen, rheumatoider Arthritis, Lungenentzündung, ungünstigen Ver- läufen der Schwangerschaft, Schlag- anfall, entzündlichen Darmerkrankun- gen und Darmkrebs, Meningitis oder Hirnabszessen, Lungen-, Leber- oder Milzabszessen, Nierenerkrankungen und der Blinddarmentzündung einen Beitrag leistet [Seitz et al., 2019]. Umgekehrt wird angenommen, dass systemische Erkrankungen wie Diabetes oder rheumatoide Arthritis das orale Mikrobiom beeinflussen [Han und Wang, 2013; Chapple und Genco, 2013; de Pablo et al., 2009]. Die Beteiligung einer Dysbiose des oralen Mikrobioms an der Entstehung der Adipositas wird diskutiert [Benahmed et al., 2020]. Die negative Beeinflussung des Typ-2- Diabetes und des Blutzuckerspiegels von Nichtdiabetikern durch die Paro- dontitis ist erwiesen. Hier besteht ein bidirektionaler Zusammenhang PROF. DR. STEFAN RUPF \ 1989 – 1994: Studium der Zahn- medizin an der Universität Leipzig \ 1997: Promotion, Leipzig \ 2006: Habilitation, Leipzig \ 2007: Oberarzt Klinik für Zahnerhaltung Homburg/Saar \ 2012: außerplanmäßige Professur, Universität des Saarlandes \ 2020: Ruf auf die Professur für „Synoptische Zahnmedizin“, Universität des Saarlandes Forschungsschwerpunkte: - Kariesprozess: Biofilme, orales Mikrobiom - kaltes atmosphärisches Plasma - Biomaterialien Foto: privat ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 48 | ZAHNMEDIZIN

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