Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2294) FORTBILDUNG MIKROBIOM Das orale Mikrobiom und seine kariogenen Spezies Georg Conrads Das orale Mikrobiom besteht aus hochdynamischen Lebensgemeinschaften mikrobieller Keime, deren Zusammensetzung örtlich in der Mundhöhle und im täglichen Zeitablauf drastisch verschieden sein kann. Hinzu kommt, dass in jedem menschlichen Mikrobiom individuell-spezifische Keimzusammensetzungen zu finden sind. Für die Kariogenese spielen die Metabolisierung von Zucker und die damit verbundenen Prozesse von Säureproduktion und Ausbildung von Diffusionsbarrieren eine zentrale Rolle. Der Beitrag skizziert den Stand der Forschung und gibt einen Ausblick auf mögliche Therapieansätze. A m Lehr- und Forschungsgebiet Orale Mikrobiologie und Im- munologie in Aachen unter- suchen wir die Veränderungen im ora- len Mikrobiom unter verschiedensten Bedingungen (zum Beispiel gesund versus Parodontitis beziehungsweise Karies; auf verschiedenen Substraten wie Dentin, Schmelz, Kompositen; nach Zugabe von Antibiotika oder Pro- biotika) und mit Kultur-basierten wie auch molekularen Methoden. Meist erschließt sich das Resultat nicht auf den ersten Blick, sondern es sind aufwendige statistische Berechnungen nötig, bevor ein Zusammenhang deut- lich wird. Untersucht man hingegen den Einfluss von Zucker (Saccharose) auf die Entwicklung des Speichel- mikrobioms, so fällt das Ergebnis so eindeutig aus, dass auch ein Laie das Resultat sofort begreift. Diesen Versuch möchte ich als Einleitung zum Thema kurz präsentieren. DAS SACCHAROSE-EXPERIMENT Für ein vom Bundesforschungsminis- terium gefördertes Verbundprojekt hatten wir in Aachen die Aufgabe, das Speichelmikrobiom außerhalb der Mundhöhle in vitro für mindestens 18 Stunden möglichst unverändert zu bewahren, um neue antimikrobielle Substanzen in ihrer Wirkung auf das Mikrobiom ex vivo zu testen [Conrads et al., 2019a]. Wir haben dazu unter anderem Mikrobiom-Proben auf ver- schiedenen Nährmedien mit und ohne Zuckerzusatz (0,5 Prozent Saccharose) getestet. Hintergrund: Prinzipiell gibt es 700 bis 800 verschiedene orale Bakterienarten, wovon jedoch nur die Hälfte kultivierbar ist [Dewhirst et al., 2010]. Die Gründe dafür liegen in den unbekannten Nährstoffansprüchen vieler Keime und auch in fehlenden Möglichkeiten, die Keime nach Über- führung auf eine Agarplatte von obli- gatorischen, symbiontischen Begleit- organismen zu trennen. Alle Menschen haben ein gemeinsa- mes Kern-Mikrobiom aus besonders erfolgreichen „essenziellen“ Spezies. Daneben existiert in jedem oralen Mikrobiom eine individuell-spezifische Auswahl zusätzlicher Keime im Sinne eines personalisierten mikrobiellen Fingerabdrucks. Neben den individuel- len gibt es auch standortspezifische und zeitliche Unterschiede in der Zu- sammensetzung des Mikrobioms. Letz- tere sind zum Beispiel vom Rhythmus der Nahrungsaufnahme abhängig. Von mir persönlich weiß ich, dass ich 280 Bakterienarten im Biofilm und 215 Bakterienarten im Speichel besitze, davon etwas weniger als die Hälfte (geschätzt 100) prinzipiell kultivierbar. Mit nährstoffreichen Standard-Agar- platten lassen sich davon ungefähr 60 Arten anzüchten. Abbildung 1 gibt einen exemplarischen Überblick über ein normales Speichel- mikrobiom. Es ist hier dargestellt nach Bestrahlung mit UV-Licht. Dadurch fluoreszieren einige Bakterienarten charakteristisch, zum Beispiel Fuso- Quelle: Conrads Abb. 1: Das Speichelmikrobiom in seiner ganzen Vielfalt: Exemplarisch sind namentlich zehn Bakterienarten für etwa 60 Arten insgesamt auf dieser Agarplatte genannt. 52 | ZAHNMEDIZIN
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