Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2298) Man kann bei Mikroben-gerichteten, kariespräventiven Maßnahmen also immer nur das Schlimmste vermeiden, niemals aber alle Erreger eliminieren. Das ginge nur mit einer sterilen Mund- höhle, wie es bei gnotobiotischen Tier- versuchen in der Tat praktiziert wurde, was aber außerhalb der Laborbedin- gungen unmöglich ist. Was ist also das Gefährlichste was unser Mikrobiom in Sachen Kariesrisiko hergibt? Die reine Säureproduktion (Azidogenese) führt uns nach dem oben Erwähnten wohl eher nicht zum Ziel, denn sie ist einfach zu verbreitet. Spezifischer könnte man gesteigerte Laktatproduktionen an repräsentativen Zähnen pro Zeit messen, indem man die Aktivität des mikrobiellen Schlüssel- enzyms Laktatdehydrogenase (LDH) bestimmt. Die LDH ist ein Enzym, das den Wasserstoff auf Pyruvat überträgt und damit die für die Kariogenese quantitativ und qualitativ besonders bedeutsame Milchsäure produziert (niedriger pK s -Wert von 3,86). Ansätze der LDH-Messung (In-vitro-Daten) hat unsere Arbeitsgruppe kürzlich publi- ziert [Walther et al., 2019] und In-vivo- Studien dazu wurden abgeschlossen [Walther et al., 2020, im Druck]. LDH-Messungen als Maß für das azido- gene Potenzial sind aber kompliziert, denn es gibt viele LDH-Varianten (darunter D- und L-Formen, bakterielle und humane Formen), die zu unter- scheiden sind, zudem werden die Enzyme an- und abgeschaltet, je nach- dem, wieviel Zucker im Speichel an- kommt beziehungsweise wieviel Laktat bereits vorliegt. KARIUS UND BAKTUS LASSEN GRÜßEN DIE ROLLE DER SÄURETOLERANZ Da mag es zielführender sein, statt der Azidogenese die Säuretoleranz (Azido- toleranz, Azidophilie, Azidurie) zu be- trachten. Die Eigenschaft der Azido- toleranz eines Mikrobioms wird eben nicht einfach an- und abgeschaltet, sondern ist nachhaltig und das Ergebnis kontinuierlichen schädlichen Zucker- konsums (beziehungsweise ungenü- gender Mundhygiene). Ein azidotolerantes Mikrobiom spiegelt also das Fehlverhalten eines Patienten in Sachen Ernährung und Hygiene wider und zeigt den Bedarf für Ver- haltenslenkung durch das zahnmedizi- nische Personal. Wobei, nicht immer ist es nur Fehlverhalten, denn auch erbliche Komponenten wie Pellikel- Muster und Speichelflußrate sowie Speichelzusammensetzung können ein azidotolerantes Mikrobiom selektieren. Hier sind wir dann bei altbekannten Karieserregern (Karius und Baktus aus den frühen Neunzigern lassen grüßen) wie Streptococcus mutans, Streptococ- cus sobrinus und Lactobacillus-Spezies (Laktobazillen). Hierzu gibt es unzählige Studien, die ihre hohe Azidotoleranz und andere Virulenzfaktoren wie Ad- härenz und Produktion von extra- zellulären Polysacchariden (siehe un- ten) hervorheben. Auch die Genome dieser Arten sind bestens untersucht [Conrads et al., 2014; Song et al., 2013]. Abbildung 4 verdeutlicht die zucker- bedingte stufenweise Entwicklung der Mundflora vom Normalzustand (Homöostase) über die azidogene hin Grundzustand der dynamischen Stabilität – Homöostase pH-Wert 6,5–7,4 Bunte Vielfalt von Mikroben, darunter auch Proteolyten und basophile Spezies Vermehrung von Nicht-Mutans-Streptokokken und Aktinomyzeten Mutans-Streptokokken, Laktobazillen, Bifidobakterien reichern sich auf Kosten der Normalflora an Azidogene Phase – Aufgrund verstärkter und häufiger Säurebildung fällt der pH-Wert unter 6,5 Azidurische Phase – Säure als neue Normalität selektiert azidophile Bakterien. Der pH-Wert unterschreitet vereinzelt 5,5 Dysbiotische Phase – bei einem pH-Wert dauerhaft ‹ 5,5 überleben nur hoch-azidophile Bakterien und die Kavitation schreitet progressiv voran Netto-Schmelz-Mineralverlust Zuckerkonsum ohne angepasste Hygiene Abb. 4: Selektio n ei n er stark karioge n e n M ikro f lora i n verschiede n e n Stadie n (basiere n d au f Takahashi u n d Nyvad, 2011 u n d dere n erweiterter ökologischer Plaquehypothese) Quelle: Conrads Entwicklung der Mundflora von der Homöostase bis zur dysbiotischen Phase 56 | ZAHN M EDIZIN
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