Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2317) ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Vom Einzelfall zum Kollektiv Abschließende Zahlen und Einordnungen zur Täterforschung im Nationalsozialismus Dominik Groß In den vergangenen zwölf Monaten wurden 16 Lebensläufe von Zahnärzten vorgestellt, die wir der Kategorie der „Täter“ zurechnen. Derartige Einzelbiografien bieten gegenüber Gesamtzahlen und Statistiken den großen Vorteil, dass sie die Ereignisse des „Dritten Reichs“ am konkreten Beispiel deutlich und begreiflich machen. Andererseits ist es unverzichtbar, diese individuellen Lebensläufe in den Gesamtkontext einzubetten und zu klären, welche biografischen Auffälligkeiten übergreifende Gültigkeit beanspruchen und inwieweit die skizzierten Biografien überhaupt als „typisch“ gelten können. Ebendiesen Fragen geht dieser Abschlussbericht nach. U nter den 16 behandelten Tätern befanden sich Kriegsverbrecher, die nach 1945 vor Gericht ge- stellt wurden. In anderen Fällen war von Hochschullehrern die Rede, die sich 1933 der „zahnärztlichen Ein- heitsfront“ angeschlossen hatten, und in wenigen Aufsätzen wurde – eher am Rande – vermerkt, dass die betreffende Person im Nachkriegsdeutschland zum Namensgeber einer Auszeichnung oder Einrichtung wurde. Diese drei bislang nur beispielhaft angesprochenen Themenfelder – zahnärztliche Kriegs- verbrecher, die sogenannte Einheits- front zahnärztlicher Hochschullehrer und die Gruppe der politisch belasteten „Namensgeber“ – sollen hier vertieft betrachtet und diskutiert werden. ZAHNÄRZTLICHE KRIEGSVERBRECHER Entgegen unserer Erwartung, im Rah- men des Forschungsprojekts nur sehr vereinzelt auf Zahnärzte und Dentisten zu stoßen, die sich als Kriegsverbrecher vor Gericht verantworten mussten, konnte ebendies für 48 Personen nach- gewiesen werden. 1 Das widerlegt zum einen die lange kolportierte Theorie, dass Zahnbehandler schon aufgrund ihres auf den Mundbereich beschränk- ten Tätigkeitsfeldes kaum in die Ver- brechenskomplexe der NS-Zeit ver- strickt gewesen seien. Zum anderen belegt es, dass die Zahnärzte in der bisherigen NS-Forschung – anders als die Ärzteschaft – eine Art „blinder Fleck“ darstellten, also lange unter dem Radar der betreffenden Forscher blieben. 2 Tabelle 1 bietet eine Auflistung aller 48 betreffenden Personen. 3 Im ermittelten Kollektiv überwogen bei Weitem die Zahnärzte (n=29) gegenüber den nicht- akademischen Dentisten beziehungs- weise Zahntechnikern. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil in den 1930er-Jahren noch deutlich mehr nichtakademische als akademische Zahnbehandler tätig waren, so dass wir hier von einem umgekehrten Mehr- heitsverhältnis sprechen müssen. Ein möglicher Erklärungsansatz liegt darin, dass die studierten Zahnärzte in der Regel deutlich höhere Dienstränge und Positionen im NS-System innehatten und damit in der Regel eine höhere Verantwortung trugen, zum Beispiel in den Konzentrationslagern als Leiter der Zahnstationen, aber auch in der Wehr- macht und in der Zivilgesellschaft. 4 Damit boten sich ihnen auch mehr Handlungsspielräume, um Verbrechen zu verüben beziehungsweise – allge- mein gesprochen – Schuld auf sich zu laden. Die häufigsten Tatvorwürfe waren demnach Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag (n=8), der Raub von Zahngold (n= 8) und die Beihilfe zum Mord (n = 7) beziehungsweise zum Totschlag (n=2). 15 der 48 Zahnbehandler wurden zum Tode verurteilt – sechs durch franzö- sische Gerichte, jeweils drei durch amerikanische und sowjetische Ge- richtsbarkeiten, zwei durch britische Gerichte und einer durch das soge- nannte Militärgericht in Belgrad. Zehn Zahnärzte landeten (vergleichsweise spät) vor deutschen Gerichten: Hier gab es eher milde Urteile, namentlich fünf Haftstrafen (von fünf Monaten bis zu sieben Jahren), zwei Freisprüche, ein Fallenlassen der Anklage und zwei Verfahrenseinstellungen. Ohnehin fällt auf, dass der Zeitpunkt des Urteils einen entscheidenden Einfluss auf die Strafe hatte: Die meisten Todesstrafen ergingen bis 1947, aber auch hohe Haftstrafen waren in dieser frühen Zeitphase häufiger. Bemerkenswert ist auch, dass das Gros der zu Haftstrafen verurteilten Zahn- behandler nach ihrer Entlassung im Zahnarztberuf weiterarbeiten konnte – vielfach auch in eigener Praxis: Walter Bremmer etwa arbeitete bis 1982 in seiner Praxis im Landkreis Waldeck- Frankenberg weiter. Willy Frank fand nach seiner Haftentlassung dank seines Sohnes, der ebenfalls Zahnarzt wurde, eine Anstellung als Vertreter in einem pharmazeutischen Unternehmen. Otto Hellmuth war nach seiner Entlassung wieder in Reutlingen als niedergelas- sener Zahnarzt tätig, Walter Höhler nahm 1950 seine Praxistätigkeit in 1 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; 2 Groß, 2018a; 3 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; 4 Westemeier/Groß/Schmidt, 2018 GESELLSCHAFT | 75
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