Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2322) und zeitlich sehr aufwendig sind. So wissen wir immer noch wenig über das Ausmaß der Beschäftigung von Zwangs- arbeitern in zahnärztlichen Praxen und Haushalten im „Dritten Reich“. Nach wie vor fehlen uns auch belastbare Zahlen in Bezug auf die (auf Anzeige von Zahnärzten und Kieferchirurgen) zwangssterilisierten Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Auch die Netzwerkforschung – das heißt die Beziehungen und wechselseitigen In- formationen und Protektionen unter den politisch verstrickten Zahnärzten im „Dritten Reich“ und im Nachkriegs- deutschland – steht noch ganz am An- fang; ein derzeit in der Endredaktion befindliches Zahnärztelexikon wird dafür zumindest erste Ansatzpunkte liefern. 21 Schließlich haben viele zahnärztliche Fachgesellschaften – anders als die DGZMK – noch keine Aufarbeitung ihrer Geschichte initiiert. Dement- sprechend ist in diesen Organisationen zum Beispiel nicht geklärt, welche ihrer Vorsitzenden, Ehrenpräsidenten, Ehren- mitglieder oder Medaillenträger poli- tisch verstrickt waren und wie damit umzugehen ist (was im Übrigen auch für die Frage nach der etwaigen Aus- grenzung jüdischer Mitglieder gilt). Für die DGZMK konnten diese Recherchen im Rahmen des hier skizzierten Projekts erfolgen. Als besonders markanter Fall erwies sich dabei Gerhard Steinhardt (1904–1995) – einerseits Waffen-SS- Mitglied und andererseits DGZMK-Prä- sident (1965–1969), Träger der Ehren- nadel (1974) und Ehrenmitglied der DGZMK (1977) 22 . Es ist jedoch davon auszugehen, dass andere Fachgesell- schaften mit einer ähnlichen „histo- rischen Hypothek“ belastet sind. Unbeschadet dieser offenen Fragen bleibt festzuhalten, dass das vergangene For- schungsvorhaben sehr grundlegende Erkenntnisse zutage gefördert hat. Möglich machten dies zum einen überdurchschnittlich engagierte Pro- jektmitarbeiter, zum anderen aber auch die Vertreter der Fördereinrichtungen BZÄK, KZBV und DGZMK, die das Vor- haben uneingeschränkt unterstützten. Dank dieser Rahmenbedingungen konnte das Projekt eine beträchtliche Reichweite und Resonanz erzielen: Dies zeigen zahlreiche Berichte in den Tageszeitungen – von der deutschen „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) 23 bis zur englischen „Times“ 24 –, aber auch in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften, wodurch die Projekt- ergebnisse buchstäblich weltweit 25 be- kannt wurden. Gerade diese internationalen Publika- tionen bezeugen die Bereitschaft der deutschen Zahnärzte zur Aufarbeitung eines schmerzhaften und dunklen Kapitels ihrer Berufsgeschichte. Es bedarf keiner Prophetie, um hierin ein bleibendes Verdienst der heutigen Kollegenschaft zu erkennen. ! 21 Groß, 2021; 22 Groß/Schäfer, 2009; 23 Miehm, 2019; Groß/Krischel, 2019; 24 Moody, 2019; 25 Heit et al., 2019; Reinecke/Westemeier/Gross, 2019; Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; Gross/Hansson, 2020; Duckwitz/Groß, 2020; Schunck/Gross, 2021; Wilms/Gross, 2021 Artikel etwa aus der Times (29.11.2019), der FAZ (9.12.2019) und der Aachener Zeitung (10.01.2020) dokumentieren das Medienecho des NS-Aufarbeitungs- projekts (v.l.n.r.). 80 | GESELLSCHAFT
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